Nevare 01 - Die Schamanenbrücke
Brühe. Ohne nachzudenken tunkte ich mein G e sicht in die Pfütze und sog das übelriechende Wasser durch die Zähne. Nachdem ich getrunken hatte, lag ich eine Weile still dort, mit dem geöffneten Mund im Wa s ser, und labte meine ledrige Zunge und meine aufg e sprungenen Lippen, bis sie sich wieder einigermaßen normal anfühlten. Kiekscha, die ein Stück neben mir stand, trank, atmete, und trank weiter. Schließlich hörte ich, wie ihre Hufe durch das Wasser platschten, als sie aus dem seichten Tümpel stieg und gierig das Gras zu fressen begann, das in einem Ring um den Tümpel wuchs. Wie ich sie beneidete!
Langsam erhob ich mich aus der Brühe, wischte mir den grünen Schleim vom Kinn und schüttelte ihn mir dann von den Händen. Ich konnte das Wasser in meinem Bauch fühlen, und mir wurde fast übel, weil er sich plöt z lich so voll anfühlte. Ich watete aus dem Tümpel und begutachtete unsere kleine Zufluchtsstätte. Wir befanden uns unterhalb der windgepeitschten Ebene. Das beständ i ge Raunen der niemals ganz stillen Luft war über uns zu hören. In unserer kleinen Mulde herrschte Stille. Dann, während ich ruhig dastand, setzte der Chor des Lebens langsam wieder ein. Insekten sprachen miteinander. Eine Libelle stand in der Luft über dem Wasser. Die Blutfr ö sche, die hastig während unseres Geplansches die Flucht ergriffen hatten, kamen wieder aus ihren Verstecken he r vor. Leuchtend rot wie Lachen vergossenen Bluts, bild e ten sie scharlachfarbene Flecke auf dem grün schiller n den Belag und dem stoppligen Ried unseres Tümpels. Nun war ich froh, dass sie sich versteckt hatten, als wir gekommen waren. Sie waren hochgiftig. In meiner Kin d heit war einer unserer Hunde gestorben, weil er einen Blutfrosch i ns Maul genommen hatte. Schon die leicht e ste Berührung eines Blutfrosches erzeugte ein Kribbeln auf der Haut.
Ich pflückte und aß ein paar Wasserpflanzen, die ich kannte. Sie vermochten zwar das Hungergefühl in me i nem Bauch nicht zu besänftigen, aber so konnte ich mir sagen, dass ich wenigstens irgendetwas im Magen hatte. Ich fand nichts, woraus ich ein Gefäß zum Aufbewahren von Wasser hätte fertigen können. Ich hatte schreckliche Angst bei dem Gedanken an den Hunger und den Durst, die ich auf meiner Reise nach Hause würde ertragen müssen, aber noch größer war meine Angst vor der Ko n frontation mit meinem Vater. Ich hatte ihn enttäuscht. Der Gedanke ließ mich zum Rand des Tümpels zurüc k kehren. Ich wusch mir das geronnene Blut vom Hals und von meinem Ohr. Eine Kerbe. Mein Ohr würde nie wi e der so sein wie vorher. Ich würde die Erinnerung an mein gebrochenes Versprechen bis ans Ende meiner Tage mit mir herumtragen. Wann immer mich künftig jemand d a nach fragte, würde ich zugeben müssen, dass ich meinem Vater gegenüber ungehorsam gewesen war und mein Wort gebrochen hatte.
Der schlammige Rand des Tümpels ging über in Pla t ten aufgeborstener Erde, an denen sich genau ablesen ließ, wie sehr der Tümpel seit dem Winter geschrumpft war. Ich studierte die Spuren auf ihnen. Als der Boden feucht gewesen war, hatte ein kleines Strauchreh das Wasser aufgesucht. Eine andere, ziemlich undeutliche Spur konnte ebenso von einer großen Katze wie von e i nem wilden Hund stammen. Hinter dem aufgesprung e nen Rand des nackten Bodens stand trockenes Gras im skelettartigen Schatten eines toten Schößlings. Ich rupfte ein paar Büschel von dem Gras aus und näherte mich damit Kiekscha. Sie schien erst ängstlich, als ich anfing, den Staub und den Schweiß von ihrem Rücken und ihren Flanken zu reiben, doch stellte sie rasch fest, dass es a n genehm war, und schließlich genoss sie es sogar. Ich tat es nicht bloß, weil sie Wasser für uns gefunden hatte, ich tat es, weil ich bereits ganz zu Beginn meiner Ausbildung gelernt hatte, dass ich mich um mein Reittier zu kü m mern hatte. Ich hätte niemals auf Dewara hören sollen – in keiner Hinsicht.
Danach bereitete ich mir ein Bett im Gras. Ich b e schloss, den Nachmittag hindurch zu schlafen, dann so viel Wasser zu trinken, wie ich aufzunehmen in der Lage war, und dann zu reiten, wie die Sterne mir den Weg wiesen. Ich brach den toten Schößling ab und befreite ihn von seinen Ästen und Zweigen. Er gab eine klägliche Waffe ab, aber sie war b esser als gar nichts. Als ich mich zum Schlafen niederließ, legte ich sie n eben mich. So sehr ich die Begegnung mit meinem Vater fürchtete, s o sehr sehnte ich mich doch auch danach, wieder
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