Nevare 01 - Die Schamanenbrücke
setzte sich wieder hin. Als ich mich in mein Loch legte und die staubverkrusteten Augen schloss, kam ich mir vor wie ein Kind. Leise sprach ich mein Nach t gebet, bat den gütigen Gott, mir Kraft zu schenken und die Fähigkeit, zu erkennen, was es sein mochte, von dem mein Vater glaubte, dass dieser Mann es mich lehren konnte. Vielleicht wollte er mein Durchhaltevermögen p rüfen, wollte wissen, wie lange ich den Entzug von E s sen und Trinken ertragen konnte. Vielleicht hatte dieser alte Feind meines Vaters aber auch vor, sein Abkommen mit meinem Vater zu brechen und mich zu Tode zu fo l tern.
Vielleicht war es ein Fehler meines Vaters gewesen, ihm zu vertrauen.
Aber vielleicht war ich ja wirklich ein Weichling – und dazu ein Verräter an meinem Vater, indem ich sein Urteilsvermögen in Frage stellte. »Mach mich stolz, mein Sohn«, hatte er gesagt. Ich betete erneut zum gütigen Gott, er möge mir Kraft und Mut schenken, und versuc h te dann, Schlaf zu finden.
Mitten in der Nacht wurde ich wach. Ich roch Würste. Nein. Ich roch geräuchertes Fleisch. Unsinn. Dann hörte ich ein ganz leises Geräusch: das Glucksen eines Wasse r schlauchs. Meine Fantasie spielte mir Streiche. Doch dann hörte ich das Glucksen erneut, gefolgt von einem lauteren Gluckern, als Dewara den Schlauch absetzte. Mir kam der Gedanke, dass seine Kleider durchaus weit genug waren, um solche Dinge wie einen Wasse r schlauch und eine Tasche mit Dörrfleisch verbergen zu können. Meine schmutzverkrusteten Lider klebten z u sammen, als ich die Augen aufschlug. Es gibt nichts Dunkleres als eine mondlose Nacht in den Mittlanden. Die Sterne waren fern und interesselos. Dewara war vollkommen unsichtbar für mich.
Sergeant Duril hatte mich oft genug gewarnt, dass Durst, Hunger und Schlaflosigkeit einen Menschen zu falschen Entscheidungen verleiten können. Später, hatte er gesagt, wenn ich das volle Mannesalter erreicht hätte, könne ich auch noch Begierde zu dieser Liste hinzuf ü gen. Und so lag ich denn nun da und grübelte. War dies eine Prüfung meiner Ausdauer und meiner Standhafti g keit? Oder war mein Vater von seinem einstigen Erzfeind getäuscht worden? Sollte ich Dewara gehorchen, selbst wenn er mich in den Tod führte? Sollte ich dem Urteil s vermögen meines Vaters trauen oder lieber meinem e i genen? Mein Vater war älter und weiser als ich. Aber er war nicht hier. Ich war zu müde und zu durstig, um einen zusammenhängenden Gedanken fassen zu können. Aber ich musste eine Entscheidung treffen. Gehorchen oder ungehorsam sein. Vertrauen oder misstrauen.
Ich schloss die Augen und flehte den gütigen Gott um Rat an, aber ich hörte nur den Wind, der über die Flac h lande heulte. Bald schlief ich wieder ein. Aber es war ein unruhiger Schlaf. Ich träumte, dass mein Vater sagte, wenn ich ihm ein würdiger Sohn sein wolle, müsse ich diese Prüfung aushalten. Dann wurde aus meinem Vater plötzlich Sergeant Duril, der in höhnischem Ton sagte, er habe schon immer gewusst, dass ich dumm sei; selbst das kleinste Kind wisse doch, dass man nicht einfach so, o h ne Wasser und Proviant, in die Flachlande hinausziehe. Und Idioten hätten nichts Besseres verdient, als zu ste r ben. Wie oft er mir das schon eingeschärft habe! Wenn jemand nicht in der Lage sei, auf sich aufzupassen, dann solle er sich eben töten und aus dem Weg schaffen la s sen, bevor er sein ganzes Regiment in Gefahr bringe. Ich wachte auf. Ich konnte nicht mehr schlafen. Ich befand mich in der Hand eines Wilden, der mich hasste. Ich ha t te weder Nahrung noch Wasser. Ich bezweifelte, dass es im Umkreis eines Tagesmarsches Wasser gab oder dass ich noch einen vollen Tag ohne Wasser überstehen wü r de. Trostlosigkeit machte sich in mir breit. Ich beschloss, meine Entscheidung zu überschlafen.
Im Morgengrauen kroch ich aus meinem Loch im Sand, stand auf und ging zu Dewaras Schlafstelle. Er war wach. Seine Augen waren offen, und er schaute mich an. Schon der Versuch zu sprechen bereitete mir Schmerzen, aber es gelang mir, die Worte hinauszukrächzen. »Ich weiß, dass Sie Wasser haben. Geben Sie mir bitte etwas davon.«
Er setzte sich langsam auf. »Nein!« Seine Hand schwebte bereits über dem Griff seines Schwanenhalses. Ich war unbewaffnet. Er grinste mich an, »Warum ve r suchst du nicht, es dir zu nehmen?«
Ich stand da, gleichzeitig vor Wut, Hass und Angst bebend. Ich beschloss, dass ich leben wollte. »Ich bin nicht dumm«, sagte ich. Ich wandte mich von ihm ab und
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