Nevare 01 - Die Schamanenbrücke
zu Hause zu sein.
Ich schloss die Augen und lauschte dem Zirpen der Grillen und dem Piepsen der Blutfrösche.
4. Über die Brücke
Ich schlug die Augen auf. Die Dunkelheit hatte sich noch nicht zu der undurchdringlichen Schwärze einer typ i schen Nacht in den Flachlanden verdichtet. Regungslos verharrte ich und strengte alle meine Sinne bis zum Ä u ßersten an, um herauszufinden, was mich geweckt hatte. Dann wusste ich es. Die Stille. Ich war über dem u n barmherzigen Chor der Insekten und Frösche eingedöst. Jetzt waren sie verstummt. Sie versteckten sich vor e t was.
Mein Stock lag noch unter meiner Hand. Ich ergriff ihn und verdrehte die Augen, um Kiekscha zu suchen. Die Stute stand mit gespitzten Ohren da, hellwach. Ich folgte ihrem Blick. Zu sehen war nichts. Doch dann, auf den zweiten Blick. Die Umrisse eines Menschen vor dem dunkler werdenden Himmel. Dewara. Ich sprang sofort auf, um mich ihm entgegenzustellen, und brachte meinen Stock in Abwehrstellung, als wäre er eine richtige Pike und nicht bloß ein sprödes Stück Holz. Die Woge von Hass und Furcht, die in mir aufwallte, überraschte mich. Dewaras Schwanenhals steckte in seiner Scheide. Ich nahm an, dass immer noch mein Blut an ihm klebte. Der Stock war alles, was ich noch hatte, und mir wurde plöt z lich schmerzhaft bewusst, dass ich mit meinem schlaks i gen Körper eines Fünfzehnjährigen nicht die geringste Chance gegen den gestählten und kampferprobten Kid o na-Krieger hatte.
Er gab keinen Laut von sich, sondern pirschte sich langsam den Hang herunter an meinen Tümpel heran. Ich hielt mich bereit und wurde plötzlich völlig ruhig, als mir klar wurde, dass ich an diesem Ort sterben würde. Unsere Blicke trafen sich, als er näherkam, und ein gedehntes Lächeln entblößte seine spitzgefeilten Zähne. »Ich gla u be, du lernst die Lektion, die ich dir beibringe«, sagte er.
Ich erwiderte nichts.
»Hübsche Kerbe, die du da im Ohr hast«, sagte er. »Ich habe dich gekennzeichnet, wie eine Frau eine Ziege kennzeichnet.« Er lachte laut. Der Hass, den ich in di e sem Moment verspürte, war so stark, dass ich das Gefühl hatte, er würde mein Blut zum Sieden bringen. Dewara wusste das, und es machte ihm nichts aus. Er hockte sich hin, als wäre ich überhaupt keine Bedrohung für ihn. Nachdem er sich die Schulter gekratzt hatte, griff er in sein weites Hemd und holte ein Päckchen hervor, öffnete e s und schüttelte eine Stange heraus. Meine Nase sagte mir, dass es Rauchfleisch war. Er hielt die Stange hoch, damit ich sie nur ja sah. Mein g epeinigter Magen knurrte laut, als mir der Duft des Fleisches in die Nase stieg. Er stopfte sich die Stange in den Mund und kaute laut und mit schmatzenden Geräuschen. »Hast du Hunger, Sold a tenjunge?« Er schwenkte das Päckchen Dörrfleisch vor meiner Nase.
»Gib mir Fleisch!«, herrschte ich ihn an. Ich war selbst überrascht, dass ich diese Worte sagte, und vor allem darüber, wie ich sie sagte. Sofort bereute ich sie. Ich war nicht in der Lage, ihn dazu zu zwingen, dass er meinem Befehl gehorchte. Mein Mund hatte sich beim Anblick des Fleisches mit Speichel gefüllt, und meine Kehle schmerzte, als ich ihn herunterschluckte. Die Gier nach dem, was er besaß und mir vorenthielt, packte mich mit Macht, und plötzlich wusste ich, dass ich darum kämpfen würde. Lieber würde ich im Kampf sterben als dem Hu n ger erliegen! Langsam, aber zielbewusst begann ich mich auf ihn zu zu bewegen, meine lächerliche Waffe fest u m klammernd. Er erkannte meine Absicht und ließ erneut sein raubtierhaftes Grinsen aufblitzen. Ich sah, wie seine Muskeln sich strafften, als er sich für meinen Angriff rüstete. Während ich mich auf ihn zubewegte, behielt ich sorgfältig seinen Schwanenhals im Auge.
Als ich noch etwa zehn Fuß von ihm entfernt war, stand er abrupt auf. Ich hatte nicht gesehen, wie er den Schwanenhals gezückt hatte, aber die Waffe glänzte in seiner Hand. »Du willst Fleisch? Dann komm her und hol es dir, Soldatenjunge!«, rief er höhnisch.
Wer von uns beiden mehr überrascht war, als ich ihn mit meinem Stock attackierte, weiß ich nicht. Ich ve r suchte, ihm die Beine unter dem Körper wegzuschlagen, aber der spröde Schößling zerbrach, als er auf sein Schienbein traf. Er brüllte, mehr vor Wut als vor Schmerz, und ein Streich seines Schwanenhalses zerhieb das, was von meinem Stock übriggeblieben war, in zwei nutzlose Stücke.
Daraufhin versuchte ich, ihm die zwei Stücke an den Kopf
Weitere Kostenlose Bücher