Nevare 01 - Die Schamanenbrücke
ich es nie.
Am nächsten Morgen begrüßte Dewara voller Freude den neuen Tag und entbot mir seine guten Wünsche und seine herzliche Kameradschaft. Er verhielt sich, als w ä ren alle Streitigkeiten zwischen uns beigelegt. Ich verstand die Welt nicht mehr. Ich hatte immer noch sta r ke Schmerzen, und auf meinem Bauch und an meiner Brust prangte ein dicker Bluterguss. Mein aufgeschlit z tes Ohr brannte noch immer wie Feuer. Alles in mir sehnte sich danach, meinen Zwist mit dem Kidona for t zuführen; fast hoffte ich, er würde mich irgendwie pr o vozieren oder beschämen, so dass ich einen Grund hätte, mit ihm zu kämpfen. Aber er war plötzlich bester Laune und s o gar zu Scherzen aufgelegt. Als ich auf seine laun i gen Avancen mit Misstrauen reagierte, lobte er mich für me i ne Vorsicht. Als ich mich daraufhin bockig in mürr i schem Schweigen erging, pries er meine stoische Ha l tung, die eines echten Kriegers würdig sei. Ganz gleich, was ich tat, um meine Abneigung gegen ihn deutlich zu machen, stets fand etwas Gutes daran. Als ich absolut stumm dasaß und mich jeglicher Reaktion überhaupt en t hielt, äußerte er sich lobend über meine Selbstbeher r schung und sagte, der sei ein weiser Krieger, der seine Energie bewahre, bis er seine Situation begriffen habe.
Er war in jeder erdenklichen Hinsicht ein anderer Mensch als der, der er noch am Tag zuvor gewesen war. Ich schwankte zwischen Verblüffung und der Überze u gung, dass seine plötzliche Freundlichkeit nichts weiter w ar als eine Maske, hinter der sich seine Verachtung für mich verbarg. Seine gute Laune ließ meine Feindseligkeit kindisch erscheinen, selbst in meinen Augen. Seine Leu t seligkeit machte es mir schwer, meine Abneigung ihm gegenüber aufrechtzuerhalten, erst recht angesichts der Tatsache, dass er darum bemüht war, mich in jede seiner Handlungen einzubeziehen. Wiederholt winkte er mich zu sich, um mir das, was er tat, in allen Einzelheiten zu erklären. Nichts hatte mich auf so etwas vorbereitet. Ich fragte mich, ob er verrückt war – oder ob womöglich ich den Verstand verloren hatte.
Ein verwirrter Junge ist leicht zu manipulieren.
An jenem Morgen bot er mir Fleisch an, ohne dass ich ihn darum gebeten hätte, und zeigte mir, wie er die Wa s serpflanzen als Filter benutzte, wenn er seine langen rohrförmigen Wasserschläuche füllte. Ich glaube, sie w a ren aus Darm. Er fing mehrere Blutfrösche, wobei er sorgfältig darauf achtete, dass sie nicht mit seiner nac k ten Haut in Berührung kamen. Er brachte sie zu einem großen flachen Felsen und setzte sie dort aus. Die gl ü hende Sonne briet die kleinen roten Kreaturen rasch zu flachen braunen Klumpen. Er faltete ein Päckchen aus den harten, platten Blättern eines Schwertbuschs und ve r staute die getrockneten Frösche vorsichtig in einer der Innentaschen seines weiten Gewandes. Allmählich b e griff ich, dass ich mich in meinem Glauben, wir wären mit leeren Händen von Dewaras Lager aufgebrochen, offenbar arg getäuscht hatte: Allem Anschein nach war er bestens für unseren Ritt gerüstet gewesen. Er hatte alles bei sich, was wir beide zum Überleben brauchten. Damit ich etwas von ihm bekam, würde er mich dazu zwingen, einzugestehen, dass ich auf ihn angewiesen war.
Er war so gut aufgelegt und so freundlich zu mir, dass es mich immer wieder aufs Neue verblüffte und ich au f passen musste, dass ich in meiner Wachsamkeit nicht nachließ. Plötzlich war er in die Rolle des Lehrers g e schlüpft, als hätte er sich endlich dazu durchgerungen, mir die Dinge beizubringen, von denen mein Vater wol l te, dass ich sie lernte. Als wir an jenem ersten Morgen dort bei dem Tümpel auf unsere Taldis stiegen, dachte ich, wir würden auf dem kürzesten Weg zurück zu se i nem Lager am Fluss reiten, auf dem Land meines Vaters. Stattdessen ritt er vorneweg, und ich folgte ihm. Am Mi t tag hielten wir an, und er gab mir eine kleine Schleuder, zeigte mir, wie die Kidona damit schossen, und sagte mir, ich solle üben. Wir ließen unsere Taldis zurück und gingen zu einem Gebüsch, das entlang dem Rand einer Schlucht wuchs. Er betäubte das erste Präriehuhn, das wir aufscheuchten, mit einem gezielten Schuss, und ich rannte los, um ihm den Hals umzudrehen, bevor es sich wieder erholte. Das zweite Huhn, auf das er mit seiner Schleuder schoss, brach sich den Flügel, und ich musste ihm lange nachjagen, bis ich es endlich erwischte. Ich selbst brauchte bis zum Nachmittag, bis es mir endlich gelang,
Weitere Kostenlose Bücher