Nevare 01 - Die Schamanenbrücke
Dämmerlicht, das auf uns herabsickerte, und der Waldboden war nahezu bar jeden Pflanzenlebens. Stattdessen war er mit einem dicken Teppich von in Jahrhunderten herabgefallenen Blätter bedeckt. Ein feiner Regen von Tautropfen fiel von dem Laubdach über unseren Köpfen. Eine dicke gelbe Schlange glitt an uns vorbei, ohne uns auch nur eines Blickes zu würdigen. Die Luft war kühl und prall von Feuchtigkeit. Die Welt roch satt und lebendig.
»Dies ist ein Trugbild«, sagte ich zu Dewara. Er stand neben mir in dieser Welt der Dämmerung. Ich wusste, dass er es war, obwohl er mich um mehrere Fuß überra g te und den Kopf eines Falken auf den Schultern trug.
»Gernier!« Er spie das Wort förmlich aus. »Du bist es, der hier nicht wirklich ist. Entweihe die Jagdgründe R e schamels nicht mit deinem Unglauben! Geh!«
»Nein«, flehte ich ihn an. »Nein. Lass mich bleiben. Lass mich hier wirklich sein!«
Er schaute mich bloß an. Seine Falkenaugen waren golden und rund. Sein Schnabel sah sehr scharf aus. Se i ne Fingernägel waren schwarz und krallenförmig. Ich wusste, dass er mir das Herz aus der Brust reißen konnte, wenn er das wollte. Doch stattdessen wartete er, gab mir Zeit zum Nachdenken.
Plötzlich kamen mir die richtigen Worte in den Sinn. »Ich möchte ein Mann sein. Ich möchte ein Krieger sein. Ich möchte ein Kidona sein.«
An irgendeinem fernen Ort schämte ich mich meiner selbst, dass ich mein Erbe verleugnete und zu einem Wilden wurde. Doch dann, als würde eine Blase zerpla t zen, zählte jenes Leben nicht mehr. Ich war ein Kidona.
Wir wanderten durch jene Welt. Ich erinnere mich nicht, wie viel Zeit verstrich, und doch erinnere ich mich daran. Größtenteils kann ich nicht wiedergeben, was wir dort sahen oder taten oder worüber wir sprachen. Es ist so, als versuche man, sich nach dem Aufwachen an einen Traum zu erinnern. Doch gibt es bis zum heutigen Tag Augenblicke, in denen ich einen harzigen Geruch in der Nase spüre oder das ferne Rauschen v on Stromschnellen höre, und schlagartig wird die Erinnerung an einen M o ment an jenem Ort und in jener Zeit lebendig. Ich erinn e re mich, dass Dewara einen Falkenkopf hatte und dass ich manchmal auf einem Pferd mit zwei Köpfen ritt – der eine war der bürstenmähnige Kopf eines Kidona-Ponys, der andere ähnelte verblüffend dem meines Sirlofty. Die Erinnerungen kommen, scharf wie Glassplitter, und ve r gehen, wie die Wellen, die ein Stein auslöst, den man in einen Teich wirft. Manchmal schrecke ich mitten in der Nacht aus dem Schlaf hoch und gräme mich, weil ich mich nicht an die Träume von jener Welt erinnern kann.
Nur ein Vorfall aus jener Zeit ist mir klar und deutlich im Gedächtnis haften geblieben. Es herrschte ein Zwi e licht, das weder Abend noch Morgen war, aber trotzdem hatte ich den Eindruck, die Dämmerung sei die einzige Zeit jenes Ortes. Dewara und ich standen auf einer ka h len Klippe aus tiefblauem Stein. Dorthin waren wir die ganze Zeit über unterwegs gewesen. Der Wald auf den steilen Bergen hinter uns wachte geduckt über uns. Vor uns klaffte ein Abgrund, mehr ein Werk des Windes als des Wassers. Von seinem Grunde, fantastischen Kirc h türmen gleich, die einem irren Gott zu Ehren errichtet waren, erhoben sich schroff wegragende Spitzen und Türme aus Stein. Die tosende Luft hatte spiralförmige Türme und breit sich wölbende Knäufe aus dem Fels gemeißelt, so anmutig und kunstvoll, wie es ein guter Kunsttischler, der ein Bein für einen Ziertisch drechselt, nicht besser könnte. Die freistehenden Türme aus tie f blauem Fels ragten wie ein versteinerter Wald in der Schlucht vor uns auf. In der Ferne sah ich Durchhänge und Wölbungen der wandernden Brücken, die von der steinernen Kappe des einen Unglücksbringers zu der des nächsten führten, ein mäandernder Pfad über die Schlucht. Dewara zeigte über die Kluft, die uns den Weg abschnitt, auf ein Land, wo gelbe Lichtstreifen uralten Wald und sanft wogendes Grasland beschienen. Das Licht bewegte sich auf die gleiche Weise über das Land, wie die Schatten windgetriebener Wolken über einen Berghang gleiten.
»Dort«, sagte er, und seine Stimme erhob sich laut über das Wispern des wohlriechenden Windes. Er zeigte mit lang ausgestreckter Hand hinüber, und ich sah die Federbüschel an seinen Handgelenken. »Dort drüben siehst du die Traumheimat meines Volkes. Um dort hi n zugelangen, muss man einen Sprung tun, und dann muss man die sechs Geisterbrücken des
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