Nevare 01 - Die Schamanenbrücke
war dazu verurteilt, die Folterqu a len des Eidbrechers zu erleiden, wenn ich sterbe. Doch dann offenbarten die Götter mir ihren Weg. Aus diesem Grunde gestatteten sie deinem Volk, uns zu bekriegen und zu besiegen. Aus diesem Grunde zeigten sie uns die Macht eurer Eisenmagie. Aus diesem Grunde suchte dein Vater mich auf und gab mir dich. Die Götter schickten mir meine Waffe. Ich habe dich ausgebildet. Die Eise n magie gehört dir, und du gehörst mir. Ich schicke dich aus, den Weg für die Kidona zu öffnen. Es hat die ganze Kraft der schwachen Magie, die ich noch in mir habe, aufgezehrt, dich hierher zu bringen. Ich löse meinen Schwur durch dich ein und bringe meinem Namen gr o ßen Ruhm für alle Zeiten. Du wirst ihren Wächter mit der kalten Eisenmagie deines Volkes töten. Geh nun! Öffne den Weg!«
»Ich habe keine Waffe«, sagte ich. Meine eigenen Worte machten mich in meinen Augen zum Feigling.
»Ich werde dir zeigen, wie. Schau, so rufst du dir de i ne Waffe herbei.«
Er bückte sich ungeduldig und malte mit dem Finger eine Mondsichel in den Staub. Dann blies er auf den staubigen Stein, und als der Staub z erstob, lag ein glä n zender bronzener Schwanenhals dort. Er zeigte stolz auf ihn. Dann hob er ihn auf. Sein Umriss blieben auf dem Stein der Klippe zurück wie der Abdruck eines Pferdeh u fes auf weichem Grund. Mit einem gewaltigen Hieb trieb er die glänzende Klinge in den blauen Stein zu unseren Füßen. »Diese Klinge wird dieses Ende der Brücke für das Volk der Kidona halten. Und nun musst du deine e i gene Waffe herbeirufen, damit du sie gegen den Wächter erheben kannst. Eisen kann ich nicht rufen.«
Ich schob meine Zweifel beiseite, bückte mich und malte mit dem Finger ein Bild in den Staub, das mir sehr vertraut war. Es war ein Bild, das ich in meiner Kindheit tausendmal gezeichnet hatte. Ich zeichnete einen Kava l ladegen, stolz und gerade, mit einem festen Griff und einer hübschen Quaste. Als meine Fingerspitze seine Konturen auf dem Stein beschrieb, überkam mich schlagartig der unbändige Wunsch, die Waffe wieder in meiner Hand zu spüren. Und als ich mich erneut bückte und den Staub von dem Stein wegblies, lag der Degen, den ich in Dewaras Lager zurückgelassen hatte, plötzlich vor meinen Füßen. Ebenso begeistert wie verwirrt, hob ich die Klinge auf. Ihr Abdruck blieb zurück, gleich n e ben dem von Dewaras Schwanenhals. Als ich sie stolz emporhob und durch die Luft schwang, wich Dewara erschrocken zurück und hob seine Armschwinge, um sich gegen den Stahl in meiner Hand zu schützen.
»Nimm ihn und geh!«, zischte er, die Arme hochg e reckt, um einen Raubvogel nachzuahmen, der sich auf seine Beute stürzt. »Töte den Wächter! Und schnell, ehe das Eisen in deiner Hand die Magie schwächt, die uns hier hält. Geh! Mein Schwanenhals sichert dieses Ende der Brücke! Dein Eisen wird das andere sichern.«
Ich war so sehr zu seinem Geschöpf geworden, dass ich gar nicht anders konnte, selbst wenn ich es gewollt hätte – ich musste tun, was er sagte. Zu jener Zeit und an jenem Ort und in jenem schummrigen Licht gab es ke i nen Platz für irgendeinen anderen Gedanken als den, ihm zu gehorchen. Und so wandte ich mich von ihm ab und ging an dem Felsensims entlang zum Rande der Klippe. Die Kluft gähnte bodenlos vor mir. Die hohen, spiralfö r migen Steintürme – die Unglücksbringer – und die wenig soliden Brücken, die sie miteinander verbanden, waren der einzig mögliche Weg zur anderen Seite. Mein Ziel verschwamm in der Ferne, als hinge Rauch oder Nebel in der Luft. Die Spitzen der fein gedrechselten Türme w a ren unterschiedlich groß; manche waren nicht breiter als ein Tisch, andere hätten einem ganzen Haus Platz bieten können. Die Kuppen der Türme waren graublau, anders als die aus weicherem Stein bestehenden Türme selbst, den der Wind im Laufe der Jahre abgetragen hatte. Zw i schen dem Rand der Klippe und dem ersten Unglück s bringer gab es keine Brücke. Mir würde keine andere Wahl bleiben, als hinüberzuspringen. Es war kein Sprung, der meine Möglichkeiten überstieg, und mein Landeplatz war groß, so groß wie der Unterbau von zwei Wagen. Hätte ich diese Entfernung auf festem Unte r grund überwinden müssen, wäre der Gedanke nicht so beängstigend erschienen. Doch unter mir gähnte der schier bodenlose Abgrund. Ich raffte all meinen Mut z u sammen und rüstete mich für den Sprung.
Doch noch während ich dastand, formte sich aus dem Nichts ein bronzener
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