Nevare 01 - Die Schamanenbrücke
»Ich möchte ein Krieger sein.« Die weiten Hochplateaus um mich herum und die Prärie weit unten schienen den Atem anzuhalten.
»Dann folge mir«, sagte er. »Ich gehe, um dir einen Weg zu bahnen.« Er hob die freie Hand und berührte se i ne Lippen. Zwei Atemzüge lang stand er da. Der Schein der Fackel ätzte seine Raubvogelzüge in das Schwarz der Nacht.
Dann trat er vom Rand der Klippe.
Entsetzt sah ich ihn fallen. Die Flammen seiner Fackel markierten die Bahn seines Fluges wie ein funkenspr ü hender Kometenschweif. Dann war er verschwunden. Ich sah nur den Schweif, die Fackel selbst blieb meinem Blick verborgen. Einen Moment später war auch der Schweif zu einem schwachen Leuchtkreis verblasst. D e wara war fort.
Ich stand allein am Rand des Abgrunds. Die Nacht umfing mich mit ihrer tiefen Schwärze. Der Wind zupfte sanft, aber unaufhörlich an mir. Er trug den süßen Duft und die Hitze des prasselnden Lagerfeuers herüber und drängte mich sanft zum Rand der Klippe. Was ich da tat, vermag ich nicht zu erklären; ich kann nur sagen, dass Dewara mich langsam in seine Welt und in seine Art zu denken und in seinen Glauben geführt hatte. Was mir noch einen Monat zuvor verrückt und undenkbar vorg e kommen wäre, schien jetzt mein einzig möglicher Weg zu sein. Besser, mich in den Tod zu stürzen, als wie ein Feigling dazustehen. Ich trat über den Rand der Klippe.
Ich fiel, ohne zu schreien. Ich vollzog die Reise schweigend, nur begleitet vom leisen Pfeifen des Wi n des, der an meinen abgetragenen Kleidern zerrte. Heute kann ich nicht sagen, wie lange oder wie tief ich fiel. Meine Füße landeten auf irgendetwas, und meine Knie knickten unter der Wucht des Aufpralls ein. Wild ruderte ich mit den Armen; ich versuchte, gleichzeitig zu fliegen und das Gleichgewicht wiederzufinden. In der Dunke l heit packte mich eine Hand bei der Hemdbrust und zog mich mit einem Ruck nach oben und nach vorn. Eine Stimme, die ich nicht als die von Dewara erkannte, sagte: »Du hast das erste Tor passiert. Öffne den Mund.«
Ich tat wie geheißen.
Er steckte mir etwas hinein, etwas Kleines und Flaches und ledrig Hartes. Eine Sekunde lang schmeckte es nach gar nichts, dann weichte mein Speichel es ein wenig auf, und ein beißend scharfer Geschmack erfüllte meinen Mund. Er war so stark, dass ich ihn nicht nur schmeckte, sondern auch roch. Ich fühlte ihn sogar: ein seltsames Kribbeln, das mir den Speichel in den Mund schießen ließ und meine Nase zum Laufen brachte. Und dann, e i nen winzigen Moment später, hörte ich ihn auch, als meine Ohren zu klingeln begannen. Ich bekam am ga n zen Körper eine Gänsehaut, und ich spürte, wie der Druck der Nacht – nicht der Druck der Luft, sondern der Dunkelheit – meinen Körper berührte, und ich wusste plötzlich, dass Dunkelheit nicht die Abwesenheit von Licht war. Dunkelheit war ein Element, das in Räume hineinfloss und sie ausfüllte, Räume wie den, in dem ich mich jetzt befand. Die Hand, die mich bei der Hemdbrust gepackt hielt, zog an mir, und ich stolperte vorwärts. I r gendwie gelangte ich so aus der Dunkelheit in eine and e re Welt. Licht und der süße Duft der brennenden Fackel überwältigten meine Sinne. Ich schmeckte Licht und hö r te den Duft der Fackel. Ich fühlte, dass Dewara da war, aber ich konnte ihn nicht sehen. Ich konnte überhaupt keinen bestimmten Gegenstand erkennen. Sämtliche A b stände um mich herum verschwammen zu einem einhei t lichen Blau. Meine Sinne nahmen alle Empfindungen gleichermaßen wahr.
Ein Gott sprach zu mir. »Öffne den Mund!«
Wieder gehorchte ich.
Finger schoben sich mir zwischen die Lippen und ho l ten einen Frosch aus meinem Mund. Der Mann, der wie Dewara roch, setzte den Frosch auf die Flammen der Fackel, welche plötzlich ein kleines Lagerfeuer auf einer Feuerstelle aus sieben flachen schwarzen Steinen war. Der Frosch brannte und knisterte, und dünne Fäden fe u erroten Rauches stiegen mit dem süß riechenden Rauch des Feuers von ihm auf. Der Mann drückte meinen Kopf nach vorn, über das kleine Feuer, damit ich die Dämpfe einatmete. Der Rauch brannte mir in den Augen. Ich schloss sie.
Ich schloss sie ein zweites Mal.
Aber die Landschaft, die sich rings um mich in dem Moment aufgetan hatte, als ich die Augen schloss, ve r schwand nicht. Ich konnte meine Augen vor dieser Welt nicht verschließen, denn sie existierte in meinem Innern. Wir waren auf einem steilen Berghang. Riesige Bäume umgaben uns, nahmen uns das
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