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Nevare 01 - Die Schamanenbrücke

Titel: Nevare 01 - Die Schamanenbrücke Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robin Hobb
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Vater gab einen kurzen Seufzer von sich. »Ich habe nicht erwartet, dass du das verstehst. Selethe, ich möchte, dass unser Sohn mehr ist als ein gehorsamer Soldat. Ich möchte, dass er ebenso sehr durch seine eig e nen Fähigkeiten und Talente den Weg nach oben schafft wie durch unser Vermögen, ein Patent für ihn zu kaufen. Zu einem guten Offizier gehört mehr, als nur gehorsam zu sein. Er muss die Fähigkeit entwickeln, zu führen. Das bedeutet, dass er seine eigenen Entscheidungen treffen, dass er seinen eigenen Ausweg aus einer prekären Situ a tion finden muss. Er muss die Fähigkeit besitzen, die L a ge auf dem Schlachtfeld richtig einzuschätzen und zu wissen, wann er seinem Instinkt folgen soll.
    Deshalb habe ich ihn mit voller Absicht in eine schwierige Situation gebracht. Ich wusste, dass Dewara ihm viele nützliche Dinge beibringen würde. Aber ich wusste auch, dass Dewara unseren Sohn am Ende in eine Situation bringen würde, in der er seine eigenen En t scheidungen treffen musste, in der er Autorität in Frage stellen musste, und zwar nicht nur die von Dewara, so n dern auch meine – warum ich ihn in diese Lage gebracht hatte, was ich damit bezweckte, ob das eine gute Idee von mir gewesen war, und so weiter. Es war eine riskante Taktik, ich weiß. Aber bis dahin hatte er keine Neigung erkennen lassen, dies aus sich heraus in Angriff zu ne h men. Ich wusste, dass mir keine andere Wahl bleiben würde, als ihn selbst über diese Grenze zwischen Kin d heit und Mannesalter zu stoßen. Ich hoffte, dass er lernt, wann man Befehle, die aus dem sicheren Schutz der Nachhut von Männern gegeben werden, die die Bedi n gungen an der Front nicht kennen, ignorieren muss. Dass er lernt, auf sein eigenes Urteil zu vertrauen. Dass er l ernt, dass jeder Soldat letztendlich für sich selbst ve r antwortlich ist. Dass er lernt zu führen, zuerst sich selbst, damit er schließlich auch lernt, andere zu führen.« Ich hörte, wie mein Vater sich in meinem Sessel bewegte. Er räusperte sich erneut. »Dass er zu der Erkenntnis gelangt, dass nicht einmal sein eigener Vater immer weiß, was für ihn das Beste ist.«
    Es folgte eine sehr lange Stille. Schließlich war es meine Mutter, die das Schweigen brach. Ihre Stimme war kalt vor Entrüstung. »Ich verstehe. Du hast das Wohle r gehen unseres Sohnes riskiert, indem du ihn in die Obhut eines bösartigen Wilden gegeben hast, damit Nevare le r nen sollte, dass sein Vater nicht immer weiß, was das Beste für ihn ist. Sehr gut. Ich habe diese Lektion heute Abend gelernt. Es ist schade, dass Nevare diese Lektion nicht schon viel früher gelernt hat.«
    Etwas so Bitteres hatte ich meine Mutter noch nie zu meinem Vater sagen hören. Nicht einmal im Traum hätte ich mir vorgestellt, dass sie überhaupt jemals solche G e spräche führen würden.
    »Vielleicht hast du Recht. In diesem Fall hätte er als Soldat ohnehin nicht lange überlebt.« Noch nie hatte die Stimme meines Vaters so kalt geklungen. Dennoch lag Sorge in seinen Worten. Hörte ich da nicht auch Schuld heraus? Ich konnte nicht ertragen, dass mein Vater w o möglich Schuld dessentwegen empfand, was mir wide r fahren war. Ich versuchte, etwas zu sagen, doch es gelang mir nicht, und so versuchte ich, die Hände zu heben. Ich konnte es nicht, aber ich konnte sie auf meiner Bettdecke hin und her bewegen. Ich hörte, wie meine Finger mit einem leisen Scharren über das Leinen der Decke glitten. Das war nicht genug. Ich holte tief Luft, sammelte all meine Kräfte zu einer großen Anstrengung, und hob die rechte Hand. Ich zitterte vor Anstrengung, aber ich schaffte es, sie oben zu halten.
    Da hörte ich, wie meine Mutter atemlos meinen N a men ausstieß, aber es war meines Vaters derbe Hand, die meine bandagierten Finger ergriff. Ich hatte nicht g e wusst, dass sogar meine Hände in Scharpie-Bandagen steckten; ich spürte es erst, als seine Finger sich um meine schlossen. »Nevare. Hör mir zu.« Er sprach sehr laut und deutlich, als stünde ich sehr weit von ihm weg. »Du bist jetzt zu Hause, Nevare. Du bist in Sicherheit. Du wirst wieder auf die Beine kommen. Versuch im Moment nicht, irgendetwas zu tun. Hast du Durst? Möchtest du Wasser? Drück meine Hand, wenn du Wa s ser möchtest.«
    Ich schaffte es unter großer Mühe, meine Finger ein wenig zusammenzudrücken, und kurze Zeit später spürte ich ein kühles Glas an meinem Mund. Meine Lippen w a ren geschwollen und steif. Ich trank unter großen Schwierigkeiten und machte

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