Nevare 01 - Die Schamanenbrücke
kommen. Ich bin ganz gewiss nicht zu ihm gegangen und habe brav mein Ohr hingehalten, damit er es einkerben kann. Eher wäre ich gestorben.«
Die Heftigkeit in meiner Stimme schien ihn zu e r schrecken.
»Nun, natürlich bist du das nicht, Nevare. Ich weiß, dass du so etwas niemals tun würdest. Aber was geschah genau, nachdem du ihn verlassen hattest?«
»Ich ritt eineinhalb Tage und fand schließlich selbst Wasser. In dem Moment wusste ich, dass ich überleben würde. Ich hatte vor, mich von d ort aus nach Hause durchzuschlagen, aber er holte mich ein, und in jener Nacht kämpfte ich gegen ihn. Danach sprachen wir mi t einander, und dann brachte er mir all das bei, wovon ich dir erzählt habe: wie ein Kidona sich in der Wildnis durchschlägt und wie er bestimmte Dinge macht.« Ich holte tief Luft und fühlte mich plötzlich sehr, sehr müde, als hätte ich stundenlang gefochten, und nicht bloß ein paar Minuten geredet. Ich sagte das meinem Vater.
»Ich weiß, Nevare, und ich lasse dich auch gleich wi e der in Ruhe. Erzähl mir nur, warum Dewara dir das ang e tan hat. Solange ich es nicht von dir selbst erfahren habe, weiß ich nicht, wie ich darauf reagieren soll.« Falten ze r furchten seine Stirn. »Du weißt doch gewiss, dass das, was er dir angetan hat, eine schwere Kränkung für mich bedeutet? Ich kann nicht einfach darüber hinwegsehen. Ich habe Männer ausgeschickt, die ihn suchen sollen; er wird mir Rede und Antwort stehen müssen. Doch bevor ich das Urteil über ihn verhänge, muss ich die ganze G e schichte kennen; ich muss wissen, was ihn zu diesem Affront trieb. Ich bin ein Mann, der sich der Gerechti g keit verpflichtet fühlt, Nevare. Wenn irgendetwas zw i schen euch vorgefallen ist, das ihn zu diesem Akt der Raserei getrieben hat … wenn du ihm – vielleicht sogar unabsichtlich – eine schwere Kränkung zugefügt haben solltest, dann musst du mir das sagen, mein Sohn.« Er rutschte in seinem Sessel hin und her und zog ihn dann über den Teppich, um ein Stück näher an mein Bett he r anzurücken. Dann senkte er die Stimme, als wolle er mir ein großes Geheimnis anvertrauen. »Ich fürchte, ich habe eine wichtigere Lektion von Dewara gelernt, und eine, die ebenso hart ist. Ich habe ihm vertraut, Nevare. Ich wusste, dass er streng zu dir sein würde. Ich wusste, dass er für dich nicht von seinen Prinzipien abweichen würde. Er war mein Feind, niemals mein Freund, aber er war mir ein treuer Feind, wenn man diese Worte überhaupt je miteinander verbinden kann. Ich habe auf seine Ehre als Krieger gebaut. Er hat mir sein Wort gegeben, dass er dich genauso unterweisen würde, wie er einen jungen Kidona-Krieger unterweisen würde. Und dann … tut er dir so etwas an … Ich habe mich geirrt, Nevare. Und du hast den Preis dafür bezahlt.«
Ich wog meine Worte sorgfältig ab. Ich hatte bereits tief über mein Erlebnis nachgedacht. Wenn ich meinem Vater jemals gestand, wie nahe ich daran gewesen war, »zum Eingeborenen zu werden«, würde er jede Achtung vor mir verlieren. Ich fand so viel von der Wahrheit, wie ich g laubte, dass er sie akzeptieren konnte. »Dewara hat sein Wort gehalten, Vater.«
»Er ist weit über sein Wort hinausgegangen. Dir das Ohr einzukerben … der Arzt musste beide Wunden n ä hen, mein Sohn. Es werden Narben zurückbleiben, aber weniger, als Dewara beabsichtigt hat. Das hätte ich noch hinnehmen können, zumal du zugegeben hast, dass du ihm gegenüber ungehorsam warst. Im Grunde habe ich damit gerechnet, dass du mit irgendeiner Narbe heimke h ren würdest. Für einen Soldaten ist eine Narbe keine Schande. Aber dich mit voller Absicht der prallen Sonne auszusetzen, als du hilflos und ohne Bewusstsein warst, dich in der sengenden Sonne ungeschützt liegen zu lassen … davon war nicht die Rede, und ich habe auch noch nie gehört, dass dergleichen bei der Ausbildung von Kidona-Kriegern als Strafe verhängt wird. Ich glaube, er hat dir einen Schlag auf den Kopf versetzt. Kannst du dich daran irgendwie erinnern?«
Als ich stumm den Kopf schüttelte, nickte er, mehr zu sich selbst. »Das wundert mich nicht. Kopfverletzungen können einen Teil der Erinnerungen eines Menschen au s löschen. Wahrscheinlich warst du eine ganze Weile ohne Bewusstsein, nach der Schwere deiner Verbrennungen zu urteilen.«
Meine Gedanken kreisten um sein Eingeständnis, er habe damit gerechnet, dass ich mit einer Narbe heimke h ren würde. Ich sprach den Gedanken laut aus. Ich wollte, dass er ihn
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