Nevare 01 - Die Schamanenbrücke
erzähl das deinem lederhäut i gen Volk! Du hast mir deine Waffe in die Hand gegeben! Und ich nehme sie an!«
Ihre Worte ergaben für mich keinen Sinn, und ich ha t te keine Zeit, um über sie nachzudenken. Meine Panik wuchs, als ich spürte, wie ihr Griff an meinem Schopf fester wurde. Urplötzlich zog sie mich mit einem Ruck hoch, und ich fühlte, wie mir die Haare aus der Kopfhaut rissen. Glühender Schmerz schoss mir durch die Wirbe l säule. Ich zuckte und zappelte wie ein Fisch auf dem Trockenen. Tief in mir gab etwas wichtiges nach und wurde aus mir herausgerissen wie eine Faser aus einem Stück Stoff.
Mit einem Mal war ihr Gesicht so dicht vor mir, dass ich ihren Atem auf meinen Lippen spüren konnte. Das Einzige, was ich sehen konnte, waren ihre graugrünen Augen, als sie sagte: »Ich habe dich jetzt. Du kannst lo s lassen.«
Ich ließ los und fiel in tiefe Schwärze.
5. Die Rückkehr
Irgendwo ganz in der Nähe stritten meine Eltern. Die Stimme meiner Mutter klang sehr gepresst, aber sie wei n te nicht; das bedeutete, dass sie sehr, sehr zornig war. Ihre Worte kamen kurz und abgehackt; sie klangen spitz und scharfkantig. »Er ist auch mein Sohn, Keft. Es war … sehr lieblos von dir, mich in Unkenntnis zu la s sen.« Offenbar hatte sie sich ein weitaus harscheres Wort als »lieblos« verkniffen.
»Selethe. Es gibt Dinge, die gehen Frauen nichts an; sie sind schlicht Männersache.« Am Klang seiner Sti m me konnte ich erkennen, dass er sich auf seinem Stuhl vorbeugte. Ich stellte mir vor, wie er jetzt dasaß: die Hände auf den Oberschenkeln, die Ellenbogen nach a u ßen gespreizt, die Schultern eingezogen, um sich gegen ihren Tadel zu wappnen, der Blick starr und konze n triert.
»Wenn es um Nevare geht, bin ich nicht bloß irgen d eine Frau. Ich bin seine Mutter.« Ich wusste, dass meine Mutter die Arme vor der Brust verschränkt hatte. Ich konnte sie fast sehen, wie sie dastand, kerzengerade, j e des einzelne Haar an seinem Platz, rote Flecken der Err e gung auf den Wangen. »Alles, was meinen Sohn betrifft, betrifft auch mich.«
»In Dingen, wo er dein Sohn ist, ist das auch so«, stimmte mein Vater ihr höflich zu, um dann mit ernster Stimme hinzuzufügen: »Aber diese Sache betraf Nevare in seiner Eigenschaft als Soldatensohn. Und wo es um sein Soldatentum geht, ist der Junge ganz allein mein Sohn.«
Ich hatte das Gefühl, dass ich durch viele Träume g e gangen war, bis ich zu diesem Ort und in diese Zeit g e langt war. Aber dies war kein Traum. Dies war mein a l tes Leben. Ich hatte nach Hause gefunden. In dem M o ment, als mir diese Erkenntnis kam, verschwanden die anderen Träume wie Nebel in der Sonne. Ich versuchte die Augen zu öffnen, aber die Lider klebten zusammen. Meine Gesichtshaut fühlte sich dick und steif an. Als ich versuchte, meine Gesichtsmuskeln zu bewegen, verspürte ich Schmerzen. Ich erkannte das Gefühl wieder, ich hatte es vor vielen Jahren schon einmal gehabt, bei einem schlimmen Sonnenbrand. Damals hatte mich meine Mu t ter von Kopf bis Fuß mit Agu-Salbe eingeschmiert. Ich schnupperte und roch das scharfe Aroma des Krauts. Ja.
»Er wacht auf!« Die Stimme meiner Mutter war voller Hoffnung und Erleichterung.
»Selethe. Es war nur ein Zucken. Die Nerven. Reflexe. Hör auf, dich zu quälen, und gönn dir ein bisschen R u he. Entweder erholt er sich, oder er erholt sich nicht, ganz gleich, ob du dich zermürbst, indem du Tag und Nacht an seinem Bett wachst. Das nützt weder ihm noch dir etwas, sondern führt nur dazu, dass du am Ende u n sere anderen Kinder darüber vernachlässigst. Geh und kümmre dich um das Haus. Wenn er aufwacht, rufe ich dich.«
In der Stimme meines Vaters lag keine Hoffnung. Im Gegenteil, sie klang bedrückt, resigniert – er machte sich selbst die schlimmsten Vorwürfe. Ich hörte, wie er sich zurücklehnte, und an dem Knarren, das dabei zu hören war, erkannte ich, dass es der Lesesessel in meinem Zimmer daheim war. War ich dort? Zu Hause? Ich ve r suchte mich zu erinnern, wo ich zu sein geglaubt hatte, aber so sehr ich mich auch anstrengte, es fiel mir nicht mehr ein. Wie ein Traum, im hellen Licht des Tages b e trachtet, hatte sich die Erinnerung in Nichts aufgelöst.
Ich hörte das Rascheln der Röcke meiner Mutter und ihre leisen Schritte, als sie zur Tür ging. Sie öffnete sie und hielt dann im Türrahmen inne. Mit leiser, belegt klingender Stimme fragte sie: »Willst mir nicht weni g stens sagen, warum? Warum hast du unseren
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