Nevare 01 - Die Schamanenbrücke
und ich wusste trotz meiner verbundenen Augen, dass rund um die Uhr entweder meine Mutter oder eine meiner Schwestern an meinem Bett wachte, ein Gefühl, das mir ein gewisses Unbehagen bereitete. Dass mit dieser Pflicht nicht einer der Dienstboten betraut wurde, war ein Ze i chen dafür, wie sehr sich meine Mutter um mich sorgte.
Als wieder einmal eines Nachmittags Elisi an meinem Bett Wache hielt, kam mein Vater herein. Er scheuchte sie aus dem Zimmer und ließ sich vernehmlich in meinen Lesesessel fallen. »Sohn?«, fragte er mich, und als ich den Kopf in seine Richtung wandte, fuhr er fort: »Möc h test du etwas Wasser?«
»Bitte«, flüsterte ich heiser.
Ich hörte, wie er Wasser in das Glas auf dem Nach t tisch goss. Ich hob die Hand und schob den fettigen Breiumschlag auf meinen Augen beiseite. Mein ganzes Gesicht war von der Sonne verbrannt gewesen, und die heilende Haut juckte höllisch. Mein Vater schaute mir zu, wie ich mich ganz vorsichtig in eine etwas aufrechtere Position stemmte. Bestimmt sah es ziemlich linkisch aus, wie ich das Glas mit meinen beiden dick bandagierten Händen von ihm entgegennahm, aber ich sah, dass er sich sehr darüber freute, dass ich versuchte, Dinge selbs t ständig zu tun. Allein diese Freude bei ihm zu sehen war die Anstrengung wert. Ich trank, und er nahm mir das Glas schnell ab, als ich versuchte, es wieder mit beiden Händen auf den Nachttisch zu stellen. Neben dem Glas lag mein einziges Erinnerungsstück an das, was gesch e hen war. Sergeant Duril hatte darauf bestanden, dabei mitzuhelfen, mich ins Bett zu schaffen. Er hatte einen der Steine, die sie mir aus dem Fleisch geknibbelt hatten, für mich aufbewahrt. Es war ein kleiner Brocken, vermutlich ein Quarzstein, mit anderen Mineralien gemasert und gesprenkelt, aber er schien mich, gleichsam als Erinn e rung daran, dass ich wieder einmal dem Tod ein Schnippchen geschlagen hatte, seltsam aufzumuntern. Wenigstens Duril erwartete, dass ich eines Tages an di e se schmerzliche Zeit zurückdenken und an dieser Tr o phäe ein wenig Freude haben würde.
Mein Vater räusperte sich, um meine Aufmerksamkeit wieder auf sich zu lenken. »Na? Fühlst du dich schon wieder ein bisschen mehr wie du selbst?«
Ich nickte. »Ja, Sir.«
»Glaubst du, dass du reden kannst?«
Meine Lippen fühlten sich wie angebrannte Würstchen an. »Ein bisschen, Sir.«
»Sehr gut.« Er ließ sich in den Sessel zurücksinken und dachte einen Moment nach, dann lehnte er sich wi e der zu mir herüber. »Ich weiß nicht einmal, was ich dich fragen soll, mein Sohn. Ich glaube, ich überlasse es be s ser dir, es mir zu erzählen. Was ist da draußen vorgefa l len?«
Ich versuchte, mir die Lippen zu lecken. Das war ein Fehler. Schrundige, rissige Haut schabte wie eine grobe Feile über meine Zunge. »Dewara hat mich gelehrt, wie ein Kidona zu leben. Er hat mir beigebracht, wie sie zu reiten und zu jagen, Feuer zu machen und zu essen. Ein Pferd zur Ader zu lassen, um das Blut zu trinken. Vögel mit einer Schleuder zu erlegen.«
»Warum hat er dir die Kerben ins Ohr gemacht?«
Ich versuchte mich zu entsinnen. An große Teile me i ner Zeit mit ihm konnte ich mich nur noch verschwo m men erinnern. »Er hatte Nahrung und Wasser und wollte nicht mit mir teilen. Da … da hab ich ihn verlassen, um auf eigene Faust Nahrung und Wasser zu suchen. Er hatte mir gesagt, ich dürfe nicht von ihm fortgehen, aber ich habe es trotzdem getan. Weil ich befürchtete, er würde mich verdursten lassen, wenn ich es nicht täte.«
Mein Vater nickte. Seine Augen leuchteten neugierig. Er rügte mich nicht dafür, dass ich Dewara verlassen ha t te. Bedeutete das, dass er fand, ich hatte die Lektion g e lernt, die er mich hatte lehren wollen? Ich fühlte, wie plötzlich Hass auf ihn in mir aufloderte. Ich trat diese Stichflamme entschlossen aus und zwang mich, seine Frage anzuhören. »Und das war alles? Dafür hat er dir das Ohr eingekerbt?«
»Nein, das war nur für das erste Mal.«
»Du hast ihn also verlassen. Und dann bist du zu ihm zurückgegangen, um ihn um Nahrung und Wasser anz u betteln?« Ich hörte deutlich die Enttäuschung, die in se i ner Stimme mitschwang, gepaart mit Verblüffung.
»Nein«, beeilte ich mich, das richtig zu stellen. »Er hat mich verfolgt, Sir. Ich bin nicht zu ihm zurückgekrochen, um ihn anzuflehen, dass er mich rettet. Er hat mich zu Pferde gejagt und mir mit seinem Schwanenhals eine Kerbe ins Ohr gehauen, als ich versuchte, ihm zu en t
Weitere Kostenlose Bücher