Never forget - das Mädchen, das sich nicht erinnern durfte
Wir können ihnen nicht helfen, wenn wir sie nicht finden.«
Ich presse meine Finger so fest gegen meine Schläfe, dass sie bestimmt blaue Flecken hinterlassen. Vor meinem geistigen Auge flackern noch mehr Erinnerungen auf. Ein kleiner Junge, der die Kerzen auf einer Geburtstagstorte ausbläst. Der Mann, der mein Vater ist, wie er mit ernstem Gesicht auf etwas zeigt. Die Frau auf dem Foto, wie sie sich über genau diesen Herd beugt und mir einen Holzlöffel hinstreckt, um mich etwas probieren zu lassen.
»Ich weiß nicht«, sage ich. »Ich weiß nicht, ich weiß nicht, ich weiß nicht.«
»Komm schon, Cady«, drängt sie. »Du erinnerst dich bestimmt an irgendetwas.«
Ich bin so überwältigt von dieser Vermischung aus Vergangenheit und Gegenwart, dass ich ihr erst nach einer gefühlten Ewigkeit antworte. »Nein.« Ich muss ihr erklären, dass alles noch wie ein Traum ist oder ein Albtraum – lose Fragmente, die keinen Sinn ergeben. Ich öffne gerade den Mund, als sich ihre Miene anspannt.
»Also gut«, sagt sie entschieden. Dann macht sie einen Schritt nach hinten und zieht eine Pistole aus ihrer Hand tasche. Ty schnappt nach Luft. »Du hast es nicht anders gewollt.« Ohne uns aus den Augen zu lassen, ruft sie: »Michael?«
Und Michael Brenner, der Mann, den ich umgebracht habe, kommt herein.
Ich stoße einen Schrei aus und schlage die Hände vors Gesicht, als plötzlich alle Erinnerungen auf einmal zu mir zurückfluten.
33
ACHT WOCHEN ZUVOR
I ch hätte eigentlich gerade meine Hausaufgaben machen sollen, als mein Dad an meine Zimmertür klopfte. »Darf ich reinkommen?«
Ich klickte das YouTube-Video weg, das ich gerade auf meinem Laptop angeschaut hatte, sodass mein Aufsatz wieder auf dem Bildschirm erschien. »Klar.«
Doch als er die Tür öffnete, stand meine Mom hinter ihm auf dem Flur. Was war da los? Sie kamen selten gemeinsam in mein Zimmer, eigentlich nur, wenn es wirklich Ärger gab. Letzten Mai zum Beispiel, als ich die Schule geschwänzt hatte und einen Tag lang mit Freunden ans Meer gefahren war, hatten sie zu zweit mit mir geredet. Oder eher auf mich eingeredet. Aber was hatte ich in letzter Zeit angestellt, dass sie mich so ernst ansehen mussten?
Mein Dad holte tief Luft. »Deine Mutter und ich haben sehr lange nachgedacht.« Sie wechselten einen Blick, den ich nicht deuten konnte. »Aber irgendwann müssen wir es dir ohnehin sagen und du bist alt genug, um es zu erfahren.«
In meinem Kopf fiel eine Tür zu. Ganz fest. Ein Teil von mir hatte sich schon gefragt, wann dieser Tag kommen würde, und sich davor gefürchtet. Es war in letzter Zeit so offensichtlich gewesen, dass bei uns zu Hause etwas nicht stimmte. Die geschlossenen Türen, die gedämpften Auseinandersetzungen, die Gespräche, die zu einem Flüstern wurden oder ganz verstummten, wenn ich ein Zimmer betrat. Bei wem von beiden würde ich dann leben? Würde ich umziehen müssen?
Sie sagten immer noch nichts. Warum konnten es meine Eltern nicht schnell und sauber hinter sich bringen, als würde man ein Pflaster abreißen? Ich beschloss, es für sie zu erledigen. »Ihr wollt euch scheiden lassen.«
Mein Dad blinzelte.
»Was? Nein.« Meine Mom schüttelte den Kopf. »Nichts in dieser Richtung.« Sie lachte ein wenig, aber es klang traurig. Ihre Augen blickten ins Leere. »Wenn es nur das wäre.«
»Was ist es denn dann?« Mein Gehirn lieferte mir eine andere, eine noch schlimmere Antwort. »Einer von euch hat Krebs?« Meine gleichgültige Fassade zerbrach.
Mein Dad riss die Hände nach oben. »Wirst du uns jetzt wohl einfach mal ausreden lassen?« Die Worte explodierten aus seinem Mund.
Ich schrak zurück. Mein Dad schrie sonst nie. Niemals. Nicht einmal, als ich nach dieser Schule-schwänzen-und-ans-Meer-fahren-Aktion einen Monat Hausarrest bekam.
Mom legte ihm die Hand auf den Arm. »Patrick, du machst ihr Angst.«
Er drehte sich zu ihr um und redete, als wäre ich gar nicht da. »Ich muss ihr Angst machen, oder? Sie muss begreifen, wie ernst das ist. Der geringste Fehltritt könnte unser aller Ende bedeuten.« Er wandte sich wieder an mich. »Weißt du, worin unsere Arbeit besteht?«
»Ihr seid Wissenschaftler. In einem Labor. Ihr erforscht Tierkrankheiten.« Ich hatte keine Ahnung, worauf sie hinauswollten. Ich wusste nur, dass ich anfing zu zittern. Was immer sie mir erzählen wollten – es war schlimmer als eine Scheidung. Schlimmer als Krebs. »Viren.« Ich hatte sie ein Mal besucht, vor vier Jahren, am Girls’ Day,
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