Never forget - das Mädchen, das sich nicht erinnern durfte
Wagen steigt. Es regnet jetzt so stark, dass bestimmt niemand freiwillig nach draußen geht.
Wir rennen durch den Platzregen auf ein zweistöckiges grünes Haus mit Solarzellen auf dem Dach zu. Das Haus liegt dunkel und still da. Die gelben Absperrbänder der Polizei blockieren die Haustür. Drei Backsteinstufen führen zur Veranda. Auf der obersten steht ein grinsender Kürbisgeist.
Moment mal. Der Kürbisgeist. Ich weiß, dass sich in ihm eine dicke weiße Kerze befindet, umgeben von einem See aus verkokeltem Wachs. Weiß ich das wirklich? Oder bilde ich es mir nur ein? Und wenn dort wirklich eine Kerze ist – was beweist das dann? Das hätte man genauso gut erraten können. Wir huschen seitlich am Haus entlang, vorbei an einem Fenster mit weißen Vorhängen, dann an zwei höher gelegenen Glasscheiben, vielleicht über einer Spüle, vor denen Kräuterkästen stehen. Die Kräuter sind vom Regen etwas mitgenommen, aber ihr würziger Duft hängt in der Luft.
Liz steckt den Schlüssel ins Schloss der Hintertür, über die ebenfalls kreuz und quer Absperrbänder gespannt sind. Ty berührt mich am Arm und ich zucke zusammen.
Sieht irgendetwas vertraut aus? Ich fühle mich, als würde ich doppelt sehen – das, was da ist, und darüber eine Schicht aus dem, was war. Liz drückt die Tür auf und wir ducken uns unter den Absperrbändern durch. Wir sind in der Küche, aber sie ist total verwüstet.
Ein rosa Zettel, der am Kühlschrank hängt, fällt mir ins Auge. Ich weiß, dass ich ihn schon einmal gesehen habe. Dass er wichtig für mich war. Ich gehe zu ihm hinüber, unter meinen Füßen knirschen ausgeschüttetes Müsli, Mehl, Kaffeepulver und Glasscherben.
»Cady?«, sagt Ty. Ich drehe mich nicht um.
Es ist ein Poster. In der Mitte ist ein Foto von einem Stapel Matratzen. Neben dem Stapel steht ein Kerl, der wie ein König angezogen ist, er trägt eine silberne Krone und eine lange Robe. Kragen und Manschetten der Robe sind weiß mit schwarzen Punkten. Oben auf den Matratzen sitzt im Schneidersitz ein Mädchen. Sie beugt sich vor und stützt das Kinn auf den Kopf des Königs. Sie trägt ebenfalls eine Krone, aber sie sieht cartoonmäßig aus und ihr Haar ist zu zwei sehr unköniglichen Zöpfen zusammengebunden, die ihr links und rechts vom Kopf abstehen. Darüber steht: Die Wilson High präsentiert: Es war einmal auf einer Matratze .
Das Mädchen bin ich.
Ich bin Schauspielerin.
Schauspielere nicht. Fühle es.
Jetzt bekommen diese Worte, die mir in den letzten zwei Tagen im Kopf herumgespukt sind, endlich auch ein Gesicht. Ich sehe einen Mann mittleren Alters mit einem Klemmbrett in einem ansonsten leeren Zuschauerraum sitzen, der zu mir auf die Bühne heraufschaut. Ich kann mich an sonst nichts von dem, was er gesagt hat, oder daran, ob ich allein auf der Bühne stand oder nicht, erinnern. Aber ich höre seine Worte in meinem Kopf widerhallen.
Meine Schläfen tun jetzt so weh, dass ich mein linkes Auge zukneifen muss. Ich drehe mich im Kreis, schaue mir den Rest des Hauses an, ohne wirklich etwas zu sehen – nicht die Schubladen, die ausgeleert und auf den Boden geworfen worden waren, nicht den zerschnittenen Teppich, die verstreuten Papiere, die aufgeschlitzten Polster.
»Was ist, Cady?«, fragt Liz erwartungsvoll. »Erinnerst du dich an etwas?«
»Ich bin mir nicht sicher.«
Sie kommt auf mich zu und packt mich am Handgelenk. »Was glaubst du, was diese Männer wollten? Was weißt du ihrer Meinung nach?«
Ich fühle mich, als würde ich zerreißen. »Ich weiß nicht.«
»Glaubst du, deine Eltern könnten die Informationen über den Impfstoff hier im Haus versteckt haben? Wenn wir sie finden, haben wir etwas in der Hand, um Z-Biotech dazu zu zwingen, euch in Ruhe zu lassen. Bestimmt weißt du etwas. Ein Versteck, an dem sie den Schlüssel zu einem Bankschließfach aufbewahren oder einen USB-Stick. Ich bin mir sicher, dass dir deine Eltern etwas erzählt haben, Cady, aber wir können ihnen erst helfen, wenn du es mir sagst.«
Ohne Liz zu antworten, schüttle ich den Kopf und ziehe meine Hand weg. Alles hängt von mir ab und ich versage. Mein dummes Gehirn spuckt nicht mal Teile einer Antwort aus. Liefert mir nicht den geringsten Hinweis. Wohin würden meine Eltern gehen? Wo würden sie etwas verstecken?
»Also, was glaubst du, wo sie sind?« Liz’ Gesicht ist nur Zentimeter von meinem entfernt. »Haben sie dir eine Telefonnummer hinterlassen? Ein Codewort? Sind sie vielleicht zu Freunden gefahren?
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