Nevermore
in zerrissenen Jeans und in dem roten Flanellhemd in der Tür stehen, das sie sich manchmal, ohne zu fragen, ausborgte. Er hielt die Arme vor der Brust verschränkt und angesichts dieser Haltung hatte Isobel gute Lust, irgendetwas Sarkastisches zu antworten. Stattdessen beschloss sie, ihn zu ignorieren.
Sie öffnete den Reißverschluss ihres Rucksacks, nahm ihren Schreibblock heraus und stellte fest, dass sie immerhin noch die Liste mit den Poe-Zitaten hatte, auch wenn die Pappkartonbilder und die Karteikarten auf dem Fußboden von Varens Zimmer liegen geblieben waren. Würde er daran denken, sie mitzubringen? Interessierte ihn das überhaupt noch?
Den Bruchteil einer Sekunde lang glaubte Isobel, dass sie es schaffen konnte, beide Teile der Präsentation zu improvisieren. Vielleicht kam sie damit durch. Wenn sie die Nacht durchmachte. Doch nur mit Zitaten alleine würde sie nicht weit kommen.
»Isobel.«
Die Stimme ihres Vaters irritierte sie. Verstand er den Wink mit dem Zaunpfahl denn nicht? Sie war noch nicht bereit, mit ihm zu sprechen. Vor allem aber war sie nicht in der Stimmung für eine seiner »Ich versuche doch nur, auf dich aufzupassen«-Predigten.
»Seid ihr mit eurem Projekt fertig?«, erkundigte er sich.
Sie tat so, als hätte sie die Frage nicht gehört, schlug Poes gesammelte Werke auf und starrte hinunter auf die winzigen, in engen Zeilen gedruckten Worte. Wie weit würde sie kommen, wenn sie die ganze Nacht aufblieb? In jedem Fall konnte sie es vergessen, überhaupt irgendwas auf die Reihe zu bekommen, solange ihr Vater ihr so im Nacken saß.
»Ich habe dich gefragt, ob ihr mit eurem Projekt fertig seid.«
»Nein«, sagte sie, »sind wir nicht. Wie denn auch, wenn uns ständig irgendein Vater unterbricht?« Verärgert schob sie den Schreibblock von sich und verschränkte ihre Arme vor sich auf dem Tisch. Sie senkte den Kopf und verbarg das Gesicht in dem kühlen, dunklen Zwischenraum. So verharrte sie eine ganze Weile und lauschte dem Geräusch ihres eigenen Atems, das etwas seltsam Beruhigendes hatte. Sie hörte die Schritte ihres Vaters und wie ein Küchenstuhl über den Fliesenboden gezogen wurde. Als er sich hinsetzte, schnappte sie einen Hauch von Duschgel und Rasierwasser auf.
»Ist irgendetwas passiert, über das du reden willst?«
»Nein«, murmelte sie in ihre Arme hinein. Definitiv nicht. Außerdem wusste sie gar nicht, wo sie anfangen sollte. Ihr fiel nichts ein, was nicht ein weiterer Grund wäre, ihr bis zum Studium Hausarrest zu geben. Wenn sie überhaupt beschloss zu studieren - aber das stand auf einem ganz anderen Blatt.
»Na ja, habt ihr denn überhaupt irgendetwas fertig bekommen?« Es klang eher neugierig als vorwurfsvoll und Isobel fragte sich, warum er wohl so nett zu ihr war.
Sie stöhnte und wiegte ihren Kopf hin und her, teils um Nein zu sagen und teils um ihn freizubekommen. Sie war zu müde, um noch länger wütend auf ihren Dad zu sein. Es war zu anstrengend. »Es ist zwecklos«, murmelte sie. »Wir sind ruiniert.«
»Jetzt übertreibst du aber ein bisschen, findest du nicht? Gibst du etwa auf?«
Isobel zuckte mit den Schultern. Vielleicht bekamen sie wenigstens die Hälfte der Punkte, weil sie immerhin eine Hausarbeit vorweisen konnten. In dem Fall würde sie zumindest in die nächste Klasse versetzt werden, auch wenn sie ihren Platz im Cheerleaderteam verlor. Beim Gedanken an die Landesmeisterschaften und daran, dass das Team ohne sie nach Dallas fahren und Alyssa ihren Platz als zentraler Flyer einnehmen würde, verkrampfte sich ihr Magen wieder. Sie seufzte erneut, dieses Mal war es ein halbes Grollen, und ballte die Hände zu Fäusten. War das fair? Wie konnte das gerecht sein? Sie hatten sich doch ehrlich bemüht!
»Gibt es irgendetwas, das ich tun kann?«, fragte ihr Vater.
»Nicht, wenn du nicht zaubern kannst.«
Sie hörte, wie das Poe-Buch über den Tisch gezogen wurde, und dann das Geräusch von Seiten, die umgeblättert wurden. Mit einem Auge linste Isobel argwöhnisch zu ihrem Dad, der an dem Ultima-Thule-Porträt von Poe hängen geblieben war.
»Er war wirklich ein komischer Kauz, oder?«, sagte er mehr zu sich selbst als zu ihr.
Isobel hob langsam den Kopf und starrte ihren Vater durchdringend an.
»Er sah auch ziemlich seltsam aus.«
Isobels Hand schnellte blitzartig vor und packte den Arm ihres Vaters. Er blickte sie alarmiert an.
»Dad«, sagte sie und musterte sein Gesicht. Ihr Griff wurde fester, als ihr plötzlich etwas einfiel,
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