Nevermore
das zwischen ihnen entstanden war. Er hatte die Frage in einem versöhnlichen und vernünftigen Ton gestellt, was hieß, dass sich noch immer alles einrenken konnte.
»Ich kann es dir nicht sagen, weil dich das nur wütend machen würde.«
»Das ist wohl der beste Beweis, dass du es mir erzählen solltest«, sagte er mit schwindender Geduld. Seit letztem Freitag hatte sie alle Torchancen vergeben und jetzt obendrein ein Eigentor geschossen. Aber so was von.
Isobel fühlte ein scharfes Stechen hinter ihren Augen. Sie sollte ihrem Freund gegenüber eigentlich keine Ausreden erfinden müssen, nur um ihre Hausaufgaben erledigen zu können. Verstohlen wischte sie mit dem Finger eine Träne weg.
Sie war sich sicher, dass ihnen die ganze Kantine zusah. Der Gedanke ließ sie rot werden. Mit der Hand versuchte sie, ihr Gesicht zu verdecken.
Noch bevor sie den Mut aufbringen konnte, Brad zu antworten stand er auf und ging hinüber zu den anderen - und ließ sie vollkommen allein zurück.
Isobel versuchte, tief durchzuatmen. Seit der fünften Klasse hatte sie nicht mehr allein zu Mittag gegessen - seit dem Tag, an dem jeder mitbekommen hatte, dass ihre Mutter sie am Abend zuvor gezwungen hatte, ihre Haare mit Mayonnaise zu waschen.
Jetzt nahmen die Tränen ihren freien Lauf. Sie kamen in solchen Mengen, dass sie sich sicher sein konnte, am Ende mit verlaufener Wimperntusche dazustehen. Sie saß einfach nur da, benutzte eine Hand als Sichtschutz und versuchte mit der anderen, die Welt davon zu überzeugen, dass alles in Ordnung war, indem sie mit der Gabel in ihrem Salat herumstocherte.
Durch den Tränenschleier hindurch verschwamm alles um sie herum, doch sie konnte das Paar schwarzer Stiefel erkennen, das neben ihrem Tisch zum Stehen kam.
Oh Gott, dachte sie. Alles, nur das nicht.
»Bitte«, murmelte sie in ihren Burger hinein und brachte nicht mehr als ein piepsiges Flüstern heraus, »tu das nicht.«
»Es ist tot«, sagte er. »Ich glaube nicht, dass es dich hören kann.«
»Du machst alles nur noch schlimmer!«, fauchte sie Varen an und wandte ihm den Kopf zu, während sie ihre verheulten Augen weiter mit der Hand vom Rest der Kantine abschirmte.
»Das steht dir«, meinte er.
Isobel musste nicht erst zu ihren Freunden hinübersehen, um zu wissen, dass sie sie beobachteten. Sie konnte Brads Blick auf sich und Varen spüren. Wenn er sich bisher nicht hatte denken können, mit wem sie am Samstag zusammen gewesen war, spätestens jetzt wusste er es. War dieser Typ denn vollkommen unterbelichtet? Brad würde ihn zu Kleinholz verarbeiten.
»Er wird dich umbringen.«
»Kann er nicht«, sagte er. »Ich bin schon tot. Erinnerst du dich?«
»Du hast dir einen echt seltsamen Zeitpunkt ausgesucht, um Sinn für Humor zu entwickeln«, schnauzte sie ihn an und sah wieder nach unten.
»Wann treffen wir uns, um an dem Projekt zu arbeiten?«
Was bildete er sich eigentlich ein! Bekam er denn überhaupt nichts mit? »Gar nicht. Verschwinde.«
»Wie wäre es nach der Schule?«
»Ich habe Training.« Merkwürdigerweise konnte sie ihm die Wahrheit sagen, aber ihre Freunde musste sie anlügen.
»Also mache ich es jetzt doch alleine?«, fragte Varen - sein Tonfall war jetzt wieder kalt und unbeteiligt.
»Mr Swanson wird dir einen neuen Partner zuweisen. Geh weg.« Und zu ihrer Überraschung tat er genau das, einfach so.
Noch nie zuvor Gesehenes
Isobel hatte heute eigentlich gar nicht zum Training gehen wollen. Nicht nach der Szene beim Mittagessen. Aber sie hatte keine Wahl: Es standen ein Vorbereitungsspiel und am Freitag dann ein richtiges Spiel an. Wenn sie das Training verpasst hätte, wären nicht nur ihre Freunde sauer auf sie, sondern gleich das ganze Team. Sie arbeiteten seit Monaten an ihrem Auftritt und Isobel war der zentrale Flyer für die meisten größeren Hebefiguren. Und dann gab es auch noch diese Regel der Trainerin: verpasstes Training, verpasstes Spiel.
Isobel legte eine Hand auf Nikkis und die andere auf Alyssas Schulter und schob ihre Turnschuhe in den wartenden Griff der beiden. Damit begab sie sich buchstäblich in die Hände von Leuten, die sie gerade hassten.
Allerdings war das die einzige Möglichkeit, Vergeltung für diesen furchtbaren Tag zu üben, und darauf wollte Isobel auf keinen Fall verzichten. Denn als Flyer musste man klein und stark sein - Nikki hatte zwar tolle Beine, doch sie waren so lang wie die eines Straußes. Alyssa hingegen hatte es einfach nie geschafft, sich hoch
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