Nevermore
»Es geht um eine Frau, die stirbt und dann von den Toten aufersteht, um mit ihrer wahren Liebe zusammen zu sein.«
»Wie romantisch!« Isobel lachte laut auf.
»Es ist romantisch«, meinte Varen und wischte mit dem Mop das letzte bisschen klebrige Malzpampe auf.
»Für mich klingt das einfach nur gruselig.«
»Gruselig kann romantisch sein.«
»Tut mir leid.« Sie schüttelte den Kopf und schnitt eine Grimasse. »Aber das klingt seltsam.«
Er hörte auf zu wischen, drehte sich um und sah sie an. »Findest du das denn überhaupt nicht romantisch - die Vorstellung dass die Liebe sogar den Tod überwinden kann?«
»Irgendwie schon.« Isobel zuckte mit den Schultern, aber in Wirklichkeit wollte sie einfach nicht darüber nachdenken. Das Einzige, was ihr in den Sinn kam, war der Ausdruck Todesatem. Sie verzog das Gesicht bei dem Gedanken daran, einen Toten zu küssen, und ging zu dem Spülbecken hinter der Theke, um ihren Lappen auszuwaschen. Während das kalte Wasser aus dem Hahn lief, setzte die dissonante Musik aus und die Frauenstimme sang schmachtend a cappella weiter, wunderschön und traurig.
Let this death shroud be a veil
Though these lips are clay my skin so pale,
My eyesforyou evermore shine bright
Blacker than the raven wings of night.
Tisl…
Tisl…
Your lost love,
Your lady Ligeia …
Isobels Gedanken wurden unterbrochen, als die eindringliche Melodie wieder einsetzte und dann allmählich, zusammen mit der Frauenstimme, verebbte und mit einem hypnotisierenden Dröhnen widerhallte. Sie drehte den Wasserhahn zu und drehte sich zu Varen um. »Hast du nicht gesagt, sie heißt Emily?«
Ihre Worte schienen Varen aus einer Art Trance zu reißen. Er sah sie an, hob den Mopp hoch und tauchte ihn in das Schmutzwasser.
»Ja, so heißt sie auch. Lady Ligeia …« Er hielt inne und verlagerte sein Gewicht von einem Fuß auf den anderen, als würde er überlegen, ob er es ihr erklären sollte oder nicht.
»Was?«, fragte Isobel. Hatte sie etwas verpasst? Dachte er etwa, sie wäre zu dumm, um es zu verstehen?
»Lady Ligeia ist eine Figur aus der Literatur, die aus dem Reich der Toten zurückkehrt und in den Körper einer anderen Frau schlüpft, um bei ihrer wahren Liebe sein zu können.«
»Wie reizend.« Isobel schluckte. »Dem anderen Mädchen hat das bestimmt nichts ausgemacht, oder?«
Varen grinste, nahm den Mopp und rollte den Putzeimer hinter die Theke in Richtung Lagerraum. »Das ist eine von Poes bekanntesten Kurzgeschichten.«
Ach so, dachte sie. Deshalb hatte er also nicht näher darauf eingehen wollen. Einen Augenblick lang stand sie einfach nur da, mit verschränkten Armen gegen die Vitrine gelehnt, und dachte nach. Dann ging sie um die Theke herum und ließ ihren Lappen in das Spülbecken fallen. »Hey«, rief sie Varen zu. »Wo wir gerade dabei sind: Hast du das Projekt schon gemacht?«
»Nein.«
Sie sah ihm dabei zu, wie er den Eimer hochhob und das schmutzige Wasser in den Abfluss schüttete.
»Abgabe ist übernächste Woche.«
»Ja, ich weiß«, sagte er. Er stellte den Eimer ab und kehrte ihr für eine Weile den Rücken zu, während er sich die Hände wusch. »Müsstest nicht du dir deswegen Sorgen machen?«
»Ja, wahrscheinlich schon«, murmelte sie und richtete den Blick auf den glänzenden Boden. Sie hatten das Dessert Island geschrubbt, bis alles blitzblank war, und Isobel war überzeugt davon, dass es jetzt sauberer war als vor der Invasion ihrer Clique. Und wenn sie mittlerweile eins über Varen gelernt hatte dann, dass er gründlich war.
Sie blickte wieder auf und sah schweigend zu, wie er den Spind in der Ecke öffnete und seinen Geldbeutel herausnahm, der von drei unterschiedlich langen Ketten zusammengehalten wurde Mit der anderen Hand griff er nach irgendetwas anderem und ging dann Richtung Tür. Isobel machte ihm Platz.
Er ging an ihr vorbei und legte seinen Geldbeutel und eine Handvoll Ringe auf einen der Korbtische. Als Nächstes schnappte er sich den Plastikmüllsack, den sie während der Putzaktion gefüllt hatten, und band ihn zu.
»Warte kurz«, sagte er, »ich muss das hier noch rausbringen.« Er verschwand wieder im Lagerraum und zog dabei den Müllsack hinter sich her. Isobel hörte, wie sich die Tür zum Hinterhof öffnete.
Sie betrachtete seinen Geldbeutel und die kleine Sammlung Ringe. Einer davon war sein Highschoolring - was aber auch nur auffiel, wenn man genauer hinsah. Anstelle des traditionellen trentonblauen Saphirs umschloss der
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