Neville, Katherine - Der magische Zirkel
Mt. Everest waren mit Kreisen markiert; andere waren ohne die nationalen Grenzen, die wir gewöhnt waren, jedoch kaum zu erraten. Dacian schien dies geahnt zu haben, denn jetzt legte er über diese Karte ein durchsichtiges Blatt mit den heutigen Grenzen, und schon wurden die einzelnen Regionen deutlicher.
«Hier haben im Lauf der Jahrhunderte so viele Völker gelebt, daß sich das Wesentliche verwischt hat», erklärte er. «Diese Kreise auf der Karte kennzeichnen Orte von legendärer, sogar magischer Bedeutung, die über politische Veränderungen erhaben sind. Zum Beispiel hier.»
Er deutete auf eine Stelle, wo sich eine schlauchförmige Ausbuchtung von Afghanistan zwischen zwei Gebirgsregionen von Pakistan beziehungsweise der Sowjetrepublik Tadschikistan bis an die westlichste Grenze Chinas schob.
«Es ist sicher kein Zufall», sagte Dacian, «daß die ersten größeren Umwälzungen, die unseren Eintritt in den neuen Äon ankündigten, in dieser besonderen Ecke der Welt stattfanden. Von alters her befand sich hier wie an keinem anderen Fleck der Erde ein kultureller Hexenkessel, in dem sich Osten, Westen, Norden und Süden mischten, und damit liefert uns diese Gegend den perfekten Mikrokosmos des jetzt heraufziehenden neuen Zeitalters.»
«Aber wenn dieses Zeitalter eine Woge sein soll, die Mauern niederreißt und Kulturen vermischt», sagte Wolfgang, «verstehe ich nicht, was es mit diesem Teil der Welt und besonders mit Afghanistan zu tun haben könnte. Der blutige, aber unbedeutende kleine Krieg, den die Russen hier führen, wird wahrscheinlich keine Auswirkung auf eine andere Kultur haben.»
«So unbedeutend ist dieser Krieg nicht. Ein Wendepunkt ist erreicht worden», antwortete Dacian. «Halten Sie es für einen Zufall, daß sich die Sowjets erst in diesem Februar, zehn Jahre nach der Invasion, aus diesem unglücklichen Krieg zurückgezogen haben? Der Rückzug begann genau in diesem Augenblick, als sich der Sonnenaufgang während der Frühlings-Tagundnachtgleiche bis auf ein Zehntelgrad dem Eintritt in das Sternbild Wassermann näherte – genau elf Jahre und elf Monate vor dem offiziellen Eintritt in den neuen Äon im Jahr 2001.»
«Ich bin der gleichen Meinung wie Wolfgang», sagte ich, während ich weitere Seiten in Büchern verstaute. «Es sieht kaum so aus, als würden sieglos heimkehrende Soldaten einen weltbewegenden neuen Zweitausendjahrezyklus auslösen. Die Russen scheinen doch nur zu ihrem alten Trott zurückzukehren.»
«Das sieht nur so aus, weil sich niemand gefragt hat, warum die Sowjets dort waren», entgegnete Dacian. «Dabei ist die Antwort einfach. Genau wie Hitler vor fünfzig Jahren suchten sie nach der heiligen Stadt.»
Wolfgang und ich hielten einen Augenblick inne und starrten Dacian an. Er legte den Finger auf die Landkarte und lächelte flüchtig.
«Es hat stets viele magische Städte in dieser Region gegeben», sagte er. «Einige waren historisch nachweisbar, andere wurden nur vermutet oder waren ein Mythos wie das mongolische Chandu – das Xanadu des Kublai Khan, das Marco Polo beschrieb – oder der Zufluchtsort Shangri La im Himalaya, der nach der Legende nur einmal in tausend Jahren sichtbar wird. Dann haben wir hier im äußersten Westen von China die autonome Region Sinkiang. In den zwanziger Jahren gab der russische Maler Nikolai Rjorich Geschichten heraus, die er von Kaschmir bis Sin-kiang und Tibet über die legendäre versunkene Stadt Schambala, eine orientalische Version von Atlantis, gesammelt hatte. Man glaubte, diese wunderbare Stadt sei einst von der Erde verschlungen worden und würde bald wiederauferstehen, um den neuen Äon einzuleiten.»
Dacians Augen waren geschlossen, während sein Finger über die Landkarte glitt; aber er schien alle diese Orte, die er berührte, zu sehen. Obwohl er zugegeben hatte, daß das meiste, was er erzählte, ins Reich der Mythen gehörte, schien es für ihn so echt zu sein, daß ich fasziniert war. Ich mußte mich sehr anstrengen, mich wieder auf die Papiere zu konzentrieren und darauf, wo ich sie versteckte.
«Nach einem Jahrtausende alten buddhistischen Glauben», fuhr Da-cian fort, «ist hier in Nepal die verlorene Stadt Agharti im Kanchenjunga begraben, im dritthöchsten Berg der Welt, dessen Name ‹fünf heilige Schätze im Schnee› bedeutet. Im Süden des zweithöchsten Berges, des K2 – in dem umstrittenen Gebiet, das von China, Indien und Pakistan beansprucht wird – liegt ein weiterer heimlicher Hort
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