Neville, Katherine - Der magische Zirkel
Widderhörner. Der Widder aber wurde auf allen drei Kontinenten mit dem kriegerischen Planeten Mars assoziiert und mit dem damaligen Zeitalter des Widders. Im Norden, im Land der Skythen in Zentralasien – dem Teil der Welt, von dem wir sprechen – , wurde er Zulquarnain, der zweigehörnte Gott, genannt. Der Ausdruck bedeutet auch «Herr der zwei Wege» oder zwei Epochen – das heißt: Er, der beim Übergang von einem Äon zu einem anderen herrschen wird.
«Alexanders Mutter Olympias», so schloß Dacian, «erzählte ihm, er sei die Saat der Schlangenmacht, der kosmischen Kraft. Der Ehrgeiz, den sie in ihm von Kindesbeinen an nährte, wurde zu einem unstillbaren Verlangen nach Weltherrschaft. Zu diesem Zweck baute Alexander an jedem ‹Akupunkturpunkt› auf dem Kräfteraster der Erde eine heilige Stadt. Er dachte, wenn er diese Punkte entlang des Rückgrats der Erde fixierte, ungefähr so, als triebe man einen Nagel in einen Baum, würde er imstande sein, die ‹Drachenkräfte› der Erde nutzbar zu machen – und daß derjenige, der den heiligen Stein des neuen Zeitalters besaß und ihr genau im Zentrum des Rasters einpflanzte, die letzte Drehung des Äonenrads herbeiführen und die Drachenkräfte sowie den Rest der Welt beherrschen würde. Das war eine so wichtige Sache, daß Alexander seine Feldzüge unterbrach, um jede Örtlichkeit zu erkunden, bevor er weiterzog und daß er darauf bestand, jeder Stadt – insgesamt waren es siebzig Städte – selbst einen Namen zu geben, bevor er starb.»
«Siebzig Städte?» sagte Wolfgang und blickte von dem Buch auf, das er mit Pandoras Manuskriptseiten fütterte.
«Eine interessante Zahl, nicht wahr?» pflichtete ihm Dacian bei. «Mit den früheren sieben Städten Salomos ergibt das 77 Punkte auf dem Raster – eine bedeutende magische Zahl.»
Mir war die Parallele zwischen den 77 Städten Alexanders und Salomos und der Gruppe 77 der blockfreien Länder, über die man uns im Lauf des Vormittags bei der IAEA instruiert hatte, nicht entgangen. Als ich Wolfgang das Buch reichte, in dem ich eben einige Seiten verstaut hatte, ging die Tür auf, und ein Bibliothekar steckte den Kopf herein, um uns zu sagen, daß es Zeit war, Schluß zu machen. Dacian rollte seine Lederlandkarte auf und steckte sie in seine Tasche, während Wolfgang den letzten Bücherstapel ordnete.
«Selbst wenn es so einen Raster geben würde, der geheimnisvolle Energien nutzbar macht – was würde es bringen, wenn man sie beherrscht?» fragte ich Dacian.
«Nun, Salomo galt als Herr der vier Wohnungen, nicht nur der Erde, sondern auch der vier Elemente», antwortete er. «Deshalb besaß er die Macht eines Unsterblichen. Und Alexander wurde in der kurzen Zeit seines Lebens der erste westliche Mensch, der schon vor seinem Tod als lebender Gott angesehen wurde.»
«Du glaubst doch nicht, daß es Götter gibt, die in menschlicher Gestalt auf die Erde kommen», entgegnete ich. «Ich liebe diese alten Mythen -aber schließlich leben wir im ausgehenden zwanzigsten Jahrhundert.»
«Und genau das ist die Zeit, in der man ihre Ankunft erwartet», sagte Dacian.
Die Tür der Bibliothek schloß sich hinter uns, und wir traten hinaus auf die Straße, wo es bereits dunkel wurde. Dacian sah ziemlich erschöpft aus, als er dort im gelblichen Licht der eben aufleuchtenden Straßenlaterne stand – und trotzdem war sein Gesicht immer noch schön.
«Ich muß euch jetzt verlassen», sagte er, «ich bin sehr müde. Aber ich werde euch wiedersehen – zumindest wenn es die Götter, von denen wir sprachen, wollen. Obwohl ich nur angerissen habe, was ihr wissen müßt, habt ihr jetzt wenigstens eine gewisse Vorstellung davon bekommen. Wegen der Manuskripte würde ich mir keine Sorgen machen. Sie allein sind nur von geringem Nutzen. Es genügt nicht, sie zu lesen; man muß sie auch verstehen, und das erfordert, wie ich schon sagte, einen forschenden Verstand – und noch etwas mehr.»
«Noch mehr? Zum Beispiel, die richtigen Fragen zu stellen?» fragte ich. «Aber vorhin in der Hofburg hast du gesagt, du seist der einzige Mensch, der erklären könnte, warum jeder diese Manuskripte und die heiligen Gegenstände haben will – nur du könntest sagen, was so gefährlich daran ist. Also lautet die Frage: Warum hast du es nicht gesagt?»
«Ich habe gesagt, ein Mensch könnte dies beantworten, aber nicht, daß ich derjenige bin», erklärte Dacian. «Vielleicht erinnerst du dich, daß ich gesagt habe, Sanskrit sei der
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