Neville, Katherine - Der magische Zirkel
vorsichtshalber, alles übrige erst dann zu besprechen, wenn ich wieder zu Hause sein würde. Als ich auflegte, wartete Wolfgang vor der Telefonzelle mit unserem Gepäck, und dann gingen wir hinaus zum Taxistand. Während wir durch die feuchte, samtschwarze Pariser Nacht fuhren, mußte ich daran denken, daß Laf mich wiederholt gewarnt hatte, ich könnte mich in den sprichwörtlichen Löwenkäfig begeben ohne meine Peitsche.
Es war in der Tat durchaus möglich, wie mir jetzt grausam bewußt wurde, daß Wolfgang das Runenmanuskript nie gesehen hatte bis zu jener Nacht in meiner Wohnung in Idaho, nach jenem Lawinenunglück, als ich betäubt und außer Gefecht gesetzt war. Und wenn das stimmte, dann konnte mich der Mann, der hier neben mir in einem Taxi auf einer französischen Schnellstraße fuhr, auch in allen anderen Dingen belogen haben.
Unser Taxi bog in eine enge Straße auf dem linken Seineufer und hielt vor dem «Relais Christine». Wolfgang stieg aus, bezahlte den Chauffeur und läutete am Hoteleingang.
«Unser Flug hatte Verspätung», erklärte Wolfgang dem Portier in ziemlich tadellosem Französisch. «Könnten Sie uns unseren Zimmerschlüssel geben und das Gepäck nach oben bringen lassen? Wir wollen noch etwas essen gehen.»
Der Portier nickte und gab Wolfgang für ein hübsches Trinkgeld den Schlüssel. Wir gingen die kleine Straße hinunter bis zu einer Ecke, wo alles noch hell erleuchtet war. Wir fanden ein gemütliches Bistro, wo sich, anscheinend nach einem Theaterbesuch, ein lebhaftes Publikum eingefunden hatte und an vielen Tischen noch gespeist wurde.
Unsere coquilles kamen, gefüllt mit einer wundervoll gewürzten Mischung aus Fisch und Meerestieren. Ein gutes Essen und dazu ein kräftiger Wein schienen mich immer in eine weiche Stimmung zu versetzen und meine Überlebensinstinkte einzulullen – und dies gerade jetzt, wo ich sie am dringendsten brauchte.
«Das war ein ziemlich langes Gespräch in die Staaten», bemerkte Wolfgang schließlich, als der grüne Salat gebracht wurde. «Telefonierst du oft mit deiner Mutter?»
«Mindestens alle paar Jahre – mit Sicherheit», sagte ich. «Dann hatte dieser Anruf vielleicht etwas mit dem Anruf bei
deinem Onkel zu tun», meinte Wolfgang. «Seit Wien bist du auffallend still.»
«Ich rede oft ein bißchen viel, das stimmt schon», sagte ich. «Aber beim Thema Familie halte ich mich gewöhnlich zurück. Jetzt natürlich, wo sich herausstellt, daß wir beide tatsächlich verwandt sind, gibt es praktisch nichts, worüber wir nicht miteinander reden könnten. Das heißt, wenn wir beide beschließen würden, zur Abwechslung mal die Wahrheit zu sagen.»
«Ah», sagte Wolfgang ruhig und blickte auf seinen Teller. Dann brach er ein Brötchen entzwei und betrachtete die
Hälften, als glaubte er, sie enthielten die Lösung eines Problems. Schließlich sah er mich mit seinen türkisblauen Augen an, was mir immer ein wenig in die Beine fuhr. Aber ich wußte inzwischen, daß es besser war, mich auf den Geist statt auf die Materie zu konzentrieren.
«Du schlägst auf», sagte ich. «Aber glaube ja nicht, daß wir hier so eine Art Tennis spielen.»
«Ich verstehe schon. Man hat dir etwas gesagt, das ein schlechtes Licht auf mich wirft», sagte Wolfgang ganz gelassen. «Aber bevor ich meine Sicht der Dinge zu erklären versuche, muß ich wissen, inwieweit du die Situation bereits kennst.»
«Warum ist das immer die erste Frage, die ich bei solchen Gesprächen zu hören bekomme?» entgegnete ich. Ich stocherte in meinem Salat herum; dann legte ich die Gabel weg und sah Wolfgang an. «Ich denke, selbst wenn du Zoe Behn voriges Jahr tatsächlich zum ersten Mal getroffen hast, weißt du, daß sie deine Großmutter ist und daß folglich ihre Töchter – unsere Mütter – Halbschwestern sind. Und ich weiß, daß weder du noch Zoe mir das Runenmanuskript geschickt habt, weil das meine Mutter getan hat, wie ich heute erfahren habe. Sie hat mir zwar die Wahrheit sehr lange verheimlicht – aber sie ist nicht durch und durch verlogen. Ich wünschte, ich könnte dasselbe von dir sagen. Das einzige, wofür ich dir zu danken habe, ist, daß du mich aus einer Lawine gerettet hast. Aber sonst hast du mich, so wie ich das sehe, von dem Augenblick an, als wir uns auf dem Berg getroffen haben, nur hinters Licht geführt. Und jetzt möchte ich wissen, warum. Und zwar gleich.»
Wolfgang sah mich aus irgendeinem Grund staunend an. Auch ein paar Kellner hatten in unsere
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