Neville, Katherine - Der magische Zirkel
Packpapier auf. Wenn dieses Paket mein Verderben war, wollte ich wenigstens wissen, was drin war. Als ich die erste Seite sah, fing ich an zu lachen.
Sie war in einer Sprache beschrieben, die ich nicht lesen konnte. Die Buchstaben waren nicht einmal die unseres Alphabets, obwohl sie mir seltsam bekannt vorkamen. Ich ließ die übrigen Seiten wie Spielkarten durch meine Finger laufen. Es waren ungefähr zweimal hundert Blatt, und alle waren ähnlich mit schwarzer Tinte und von ein und derselben Hand beschrieben – federartige Stabzeichen mit kleinen Kreisen und hier und da vorspringenden Höckern, die über die Seiten zu tanzen schienen und ein wenig den Symbolen auf einem Indianerzeit glichen. Woran erinnerten sie mich?
Und dann wußte ich es. Ich hatte solche Zeichen auf einem Friedhof in Irland gesehen, als Jersey mit mir die Gräber ihrer Vorfahren besuchte. Es waren Runen, die älteste Schrift der germanischsprachigen Stämme im nördlichen Europa. Dieses verdammte Manuskript war in einer Sprache verfaßt, die seit mehr als tausend Jahren tot war.
Gerade als mir diese Erkenntnis kam, sah ich aus dem Augenwinkel, daß sich auf dem Parkplatz etwas Dunkles bewegte. Ich blickte auf und sah Olivier über den mit Splitt und Salz bestreuten Weg auf meinen Wagen zukommen. Ich warf das Manuskript auf den Beifahrersitz, wo es zum Teil aus der Umhüllung rutschte und ein paar Seiten auf den Boden fielen. Ich versuchte, den Wagen zu starten, aber in meiner Hysterie verfehlte ich zweimal das Zündschloß. Als der Motor endlich ansprang, war Olivier schon fast an der Beifahrertür. Mit dem Ellbogen drückte ich den Hebel des Türschlosses nach unten, wodurch sämtliche Türen verriegelt wurden. Gleichzeitig legte ich den Rückwärtsgang ein.
Olivier packte den Griff der Beifahrertür und versuchte, mir durch das Fenster etwas zuzurufen, aber ich ignorierte ihn. Ich schaltete in den Vorwärtsgang und fuhr los, obwohl Olivier die Hand am Türgriff hatte. Bevor ich auf die Fahrbahn einschwenkte, sah ich zu ihm hin. Er starrte durch die Scheibe auf das Manuskript!
Nun wußte ich, daß Olivier tatsächlich hinter dem Manuskript her war und daß er wußte, daß ich es hatte. Ich drehte fast durch. Die Chancen, es jetzt irgendwo in der Stadt zu verstecken, waren gleich null. Ich konnte es nur irgendwo außerhalb verstecken – aber wo?
Olivier wußte, daß ich meinen Onkel am Wochenende in Sun Valley treffen würde; das wäre zu offensichtlich. Ich mußte unbedingt auf eine Straße, die aus der Stadt hinausführte – und das schnell, bevor Olivier wieder in seinem Wagen saß und mir folgte. Mit dem Manuskript im Wagen erwischt zu werden war das schlimmste, was mir passieren konnte. Ohne groß nachzudenken, wozu ich im Augenblick weder die Zeit noch den nötigen klaren Kopf hatte, brauste ich die Straße entlang, die nach Sun Valley führte – und über den Tetonpaß nach Jackson Hole.
DIE SCHLANGE:
Die Schlange stirbt nie.
Eines Tages wirst du mich aus dieser schönen Haut schlüpfen sehen als neue Schlange mit einer neuen und schöneren Haut. Das ist Geburt.
EVA:
Ich habe das schon gesehen. Es ist wundervoll.
DIE SCHLANGE:
Wenn ich das kann, was kann ich dann nicht? Ich sage dir, ich bin sehr klug.
Wenn ihr miteinander sprecht, Adam und du, höre ich euch sagen «warum?». Immer «warum?». Ihr seht etwas, und ihr sagt: «Warum?»
Ich aber träume nie Dagewesenes,
und ich sage: «Warum nicht?»
G EORGE B ERNARD S HAW ,
Zurück zu Methusalem
Bei diesen winterlichen Bedingungen würde die Fahrt über die Grenze von Idaho und hinein nach Wyoming gut zwei Stunden dauern. Aber sie würde mir zum ersten Mal seit meiner Rückkehr aus San Francisco die Möglichkeit geben, über alles nachzudenken. War ich wirklich erst gestern zurückgekommen?
Ich hatte einen Job und bereits über eine Woche gefehlt; und mein Boss war im Augenblick nicht sonderlich glücklich mit mir, weil ich wegen der Rußlandreise kalte Füße bekommen hatte. Wenn ich heute, am zweiten Arbeitstag nach dem Urlaub, unentschuldigt fehlte, hatte ich vielleicht bald gar keinen Job mehr. Dann hatte ich versprochen, heute nachmittag in der No-Name-Bar auf Sams Anruf zu warten. Ich hatte keine Ahnung, wie ich nach dieser unerwarteten Wendung der Ereignisse wieder Kontakt mit ihm aufnehmen sollte. Und kurz bevor ich das Ende des Tales erreichte, machte ein Gedanke in meinem geplagten Kopf die Katastrophe perfekt: Ich konnte meinen Kater nicht im Haus
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