New York für Anfaengerinnen
den Übergang zum Klassiker geschafft. Wie ein Burberry-Trenchcoat, den man nie aussortieren und in die Altkleidersammlung geben durfte, weil er einfach zeitlos schön war und blieb. Benannt war das Unrat übrigens nach Heinrich Manns gleichnamigem Professor, den Marlene Dietrich im Blauen Engel verführte.
An Weihnachten wurde die mittelfränkische Gastro-Legende dann immer zum Facebook der realen Welt. Wie alle Mitglieder der Generationen X und Y fanden sich auch die nach Nürnberg, München, Berlin oder Hamburg entflohenen jungen Ansbacher wieder zu Hause bei ihren Eltern am Tannenbaum ein, aßen Gans mit Blaukraut und tauschten Geschenke aus. Spätabends trafen sie sich dann, ganz ohne Absprache, aber mit der Zielsicherheit eines Wildgänseschwarms, im Unrat.
»Zoe, Sweetheart, schön dich zu sehen.« Der Wirt, der eine alberne rote Weihnachtsmannmütze trug, nahm Zoe fest in die Arme. Im Hintergrund lief Santa Baby .
I’ve been an awful good girl, Santa Baby, so hurry down the chimney tonight.
Heute war quasi Zoes kompletter Abschlussjahrgang des Theresien-Gymnasiums präsent. Zoe war bisher immer ein großer Fan von Klassentreffen gewesen, weil sie insgeheim doch ein kleines bisschen stolz darauf war, es aus diesem Kaff in die weite Welt hinaus geschafft zu haben. Banale Befriedigung ihres Angeber-Gens. Die Betonung lag aber neuerdings auf »war«. Denn Klassentreffen waren immer auch eine Begegnung mit der eigenen Biografie, mit sich selbst also. Und Zoe Schuhmacher mochte sich selbst derzeit nicht treffen müssen. Klassentreffen waren nämlich nur dann wunderbar, wenn es rund lief im Leben. Wenn man Hochzeitsfotos mit einem Herrn Doktor Soundso, seine hochbegabten Drillinge oder zumindest Mein-Haus-Mein-Boot-Mein-Pferd präsentieren konnte. Was aber, wenn frau gerade fies verlassen wurde und wieder bei ihren Eltern ins ehemalige Kinderzimmer eingezogen war? Dann versteckte sie sich im hintersten Winkel der Bar, dort, wo es zu den Toiletten ging.
Warum Zoe dann überhaupt ins Unrat gekommen war? Sie fand, dass Verlassene ein Anrecht auf ein gewisses Maß an selbstzerstörerischem Masochismus hatten. Und das ließ sie sich von niemandem nehmen.
»Entschuldigung, darf ich da mal durch? Ich suche Zoe Schuhmacher«, hörte sie plötzlich und konnte nicht fassen, wer vor ihr stand.
»Wie kommst du denn hierher?«, fragte sie ein wenig dämlich.
»Per GPS. Global Positioning System, um genau zu sein. Sonst würde man diesen entzückenden Ort nämlich nie finden.«
Allegra wirkte hier in Ansbach wie jemand von einem anderen Stern. Sie trug ein senfgelbes Kaschmirkleidchen unter einem schwarzen Herrenjackett und hatte die Haare zu einem dieser kunstvollen Pferdeschwänze frisiert, die nicht nach »Ich komm gerade vom Joggen«, sondern eher nach »Ich gehe gleich auf die Oscar-Verleihung« aussahen.
»Allegra! Jetzt mal ehrlich!«
»Genau genommen bin ich mit Alitalia, Lufthansa und Europcar hergekommen. Neapel – Rom – Frankfurt – Nürnberg – Autobahn A7 – Staatsstraße 2223. Ich wollte schon immer mal Herpersdorf bei Ansbach, Regierungshauptstadt von Mittelfranken, in Bayern, Süddeutschland, entdecken, mien Deern«, erwiderte die gebürtige Hamburgerin.
Zoe war sich sicher, dass Allegra, mal von München abgesehen, in ihrem ganzen Leben noch keinen Fuß in das Bundesland Bayern gesetzt hatte.
Sie verlor langsam die Geduld. Irgendwo zwischen München und New York hatte sie aufgehört zu zählen, wie viele platte Witze man über ihre Heimat machen konnte. Herpes-Dorf, zum Beispiel. Haha! Sehr komisch!
»Woher weißt du eigentlich, dass ich hier bin?«
»Eros hat mir erzählt, dass du in einer Nacht-und-Nebel-Aktion nach Deutschland geflogen und völlig von der Bildfläche verschwunden bist. Die Redaktion hat natürlich irgendwann deine Eltern kontaktiert. Was denkst du denn?«
»Und was willst du jetzt hier, Al, wenn du ohnehin schon weißt, dass ich noch lebe?«
»Zoe Schuhmacher, das ist eine Intervention!«, antwortete Al mit der ernsten Miene eines TV-Arztes aus der Reality-Show Promi-Entzugsklinik , der seinem abgewrackten Kandidaten live im Fernsehen erklärte, dass es jetzt aber wirklich Zeit wäre, mit dem Koksen aufzuhören, weil sonst auch die allerletzte Gehirnzelle flöten ginge.
»Eine was?«
»Eine intervention . Was weiß ich, wie das auf Deutsch heißt. Ein Eingriff, eine Rettung. Jetzt ist jedenfalls Schluss mit Selbstmitleid und Heimkehren zu den Wurzeln und so.
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