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Newtons Schatten

Newtons Schatten

Titel: Newtons Schatten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Philip Kerr
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welchem Euch Mister Bernoulli
    und Mister Leibniz
    herausgefordert haben.»
    «Die Brachistochrone?» Newton runzelte die Stirn: So hieß das mathematische Rätsel, welches ihm die beiden gestellt hatten, in der Hoffnung, ihn daran scheitern zu sehen. «Ich kann Euch versichern, Ellis, das war keineswegs nur eine Übung. Niemand in ganz Europa konnte dieses Problem lösen, außer mir.»
    «Aber das hier ist Mord, Doktor. Und dennoch habe ich das Gefühl, Ihr betrachtet es als eine Art fesselnde intellektuelle Zerstreuung.»
    «Es bedürfte schon eines beträchtlichen Intellekts, um mich zu fesseln», insistierte Newton, wurde aber dabei ein wenig rot.
    «Aber Ihr seid gefesselt», sagte ich.
    «Ach ja?»
    «Was könnte für einen Mathematiker fesselnder sein als ein Code? Was könnte für einen Eingeweihten faszinierender sein als jene hermetischen Zeichen, die mit den Morden an Mister Kennedy und Mister Mercer einhergingen?»
    «Das ist wahr», gab Newton zu. «Wenn ich nur mehr Material hätte. Ich sage Euch, ich könnte dieses Problem über Nacht lösen. Genau wie die Brachistochrone.»
    «Vielleicht ist ja genau das der springende Punkt, Doktor», sagte ich. «Vielleicht sollt Ihr diesen Code einfach nicht lösen.
    Vielleicht bedeutet er ja gar nichts. Oder vielleicht will auch Gott nicht, dass Ihr ihn entschlüsselt.» Ich erwähnte Gott hauptsächlich, um herauszufinden, ob das aus meinem Munde noch überzeugend klänge, aber ich tat es schon auch, um Newton zu provozieren, denn ich verfiel zunehmend in eine Gereiztheit, welche eine Kombination von Liebesschmerz und
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    Schlafmangel war.
    Newton erhob sich so plötzlich, als verspürte er die Wirkung eines Klistiers.
    «Gott will nicht, dass ich ihn entschlüssle?», stieß er erregt hervor. «Oder vielleicht auch jemand anders, jemand, der nur Gott spielt und hinter diesen ganzen Machenschaften steckt?» Er zog sich die Perücke herunter, marschierte in der Amtsstube auf und ab und murmelte vor sich hin: «Das wird den Topf zum Sieden bringen, Mister Ellis. Das wird den Topf zum Sieden bringen.»
    «Welchen Topf, Sir?»
    Newton tippte sich mit dem Zeigefinger an die Schläfe. «Nun, diesen Topf natürlich. Oh, was war ich doch für ein Narr. Zu viel Eigendünkel, das ist der Fehler. Dass mir so etwas passiert.
    Mir. Ich hätte an Ockhams Rasiermesser denken sollen.»
    «Man soll nur das absolut Notwendige annehmen», explizierte ich.
    «Genau. Das ist das Prinzip des William von Ockham, unseres brillanten, rebellischen Landsmannes, welcher in seinen Schriften so leidenschaftlich gegen den Papst, aber auch gegen allerlei eitle Metaphysik gestritten hat. Er war ein großer Freigeist, Ellis, der dazu beitrug, Fragen der Logik von Fragen des Glaubens zu scheiden und so die Grundlagen unserer modernen wissenschaftlichen Methode legte. Mit Hilfe seiner rasiermesserartigen Maxime werden wir diese ganze Sache mittenzwei schneiden. Holt mir etwas Apfelwein. Mein Kopf braucht unbedingt Äpfel.»
    Ich goss meinem Herrn etwas Apfelwein ein, welchen er leerte, als wollte er tatsächlich sein Gehirn damit stimulieren. Dann setzte er sich hin, nahm Papier und Feder und schrieb das nieder, was er das reine Knochengerüst des Falles nannte. Anschließend streute er noch mehr Asche auf sein Haupt, indem er sich abermals für seine Begriffsstutzigkeit geißelte. Ich hingegen
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    dachte, dass diese wohl kaum mit der meinen mithalten könne, denn ich verstand überhaupt nichts, bis er schließlich weitersprach.
    «Das ist heute schon das zweite Mal, dass ich mich der Dummheit zeihen muss», sagte er. «Und ich bin sehr froh, dass nur Ihr es mitbekommt, Ellis und nicht dieser verdammte Deutsche oder dieser grässliche Zwerg Hooke. Die wären beide entzückt, wenn sie erführen, dass ich mich so leicht überlisten lasse.»
    «Überlisten? Wieso das?»
    «Nun, es ist haargenau so, wie Ihr sagt. Ich habe mich ablenken lassen. Denkt einmal ein paar Monate zurück, Ellis. In welchem Fall ermittelten wir gerade, als Mister Kennedy ermordet wurde?»
    «In der Sache mit den Goldguineen», sagte ich. «Die mittels des Or moulu-Verfahrens hergestellt worden waren. Ein Fall, der immer noch unaufgeklärt ist.»
    «Ihr seht, Ihr hattet völlig Recht. Ich habe mich ablenken lassen.
    Genau wie es jemand beabsichtigt hatte. Jemand, der mich gut kennt, würde ich vermuten. Denn diese hermetischen Zeichen waren für mich bestimmt. Während ich inzwischen glaube, dass jene anderen

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