Newtons Schatten
Straßen, da es unlängst heftig geregnet hatte und wir riskierten Kopf und Kragen, verloren aber dennoch keine Zeit und kamen nach dreizehn Stunden in Oxford an.
Newton hatte viele Freunde in Oxford. Der wichtigste war David Gregory, ein junger Schotte, der die Savilius-Professur für Astronomie innehatte und uns, trotz der kurzen
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Ankündigungsfrist, aufs Beste bewirtete. Er wohnte im Merton, welches ein sehr hübsches Haus ist und zudem mein altes College, weshalb es für mich ein höchst eigenartiges Gefühl war, dort zu speisen.
Gregory muss etwa achtunddreißig Jahre alt gewesen sein, als ich ihn damals kennen lernte. Er war ein typischer Schotte, klein, bleich und mit einer großen Liebe zur Flasche und zur Pfeife, weshalb es in seinen Räumen nach Tabak stank wie im verrauchtesten Londoner Kaffeehaus. Tatsächlich schien sein Körper unfähig, sich ohne die Zufuhr des süßlichen Rauchs von Virginiatabak am Leben zu erhalten. Newton war derjenige, dem der wesentlich jüngere Gregory seine eminente Stellung in Oxford verdankte. Beim Essen kam das Gespräch auf Doktor Wallis.
«Aber habt Ihr Wallis denn nie getroffen?», fragte Gregory. «Er war doch in Cambridge, oder nicht?»
«Wir haben uns getroffen, ja. Aber häufiger haben wir korrespondiert. Er hat überaus hartnäckig darauf gedrungen, dass ich etwas, irgendetwas, in seinen Opera mathematica
veröffentliche. Jetzt deutet er zweifellos den Brief, welchen ich ihm gestern sandte und meine Ankunft hier in Oxford als Zeichen, dass ich meine Meinung in dieser Sache geändert habe.»
«Und warum wollt Ihr ihn sehen?»
«Die Münzgeschäfte führten mich hierher. Ich hoffte, Wallis könnte mir bei gewissen Ermittlungen helfen. Mehr kann ich jedoch nicht sagen, denn es ist eine delikate Angelegenheit und streng geheim.»
«Gewiss», sagte Gregory und paffte drauflos wie ein holländischer Bootsmann. «Aber ich glaube, dass Wallis geheime Angelegenheiten nichts Fremdes sind, Sir. Ich habe gehört, er arbeitet insgeheim für Mylord Sunderland. Ich glaube, es hat irgendetwas mit dem Krieg zu tun, wenn ich mich auch
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frage, was ein Achtzigjähriger dazu beitragen kann, die Franzosen zu schlagen. Vielleicht stellt er ihnen Rechenaufgaben, um sie zu Tode zu langweilen.»
«Begeistert er sich immer noch so für Mathematik?», rief Newton aus.
«Allerdings, Sir. Er ist ein rechter Mathematikgelehrter, denn ich sah ihn schon ohne Feder und Papier Quadratwurzeln bis auf sieben Stellen ziehen.»
«Ich sah schon ein Pferd siebenmal mit dem Huf scharren», bemerkte Newton. «Aber ich glaube nicht, dass es Mathematiker war.»
«Mit Euch kann er es nicht aufnehmen», sagte Gregory. «Ihr habt die Mathematik in ganz erstaunlichem Maße weiterentwickelt.»
«Ich für mein Teil», entgegnete Newton, «glaube, dass ich kaum die Oberfläche des gewaltigen Wissensozeans gestreift habe. Es bleiben immer noch wundersame Geheimnisse zu entdecken. Es ist die Herausforderung unserer Zeit, den Bau des Weltgefüges zu demonstrieren.»
Newton sah mich so eindringlich an, dass ich, als er weitersprach, das Gefühl hatte, Miss Barton müsse ihm doch von unserem Gespräch erzählt haben.
«Und solange wir weiterhin zwischen der formalen Logik der Natur und dem Akt göttlichen Willens unterscheiden, sehe ich nicht, warum wir nicht glauben sollten, dass Gott selbst die Natur so bestimmt hat, dass die Welt notwendig aus ihr hervorging.»
Am nächsten Tag nach dem Frühstück erhielten wir ein Schreiben von Wallis, in welchem er uns einlud, ihn um elf Uhr zu besuchen und um die angegebene Zeit gingen wir zum Exeter College. Das Exeter gefiel mir nicht so gut wie das Merton, Magdalen oder Christchurch, wegen der mächtigen, unansehnlichen Kamine, ganz zu schweigen von den
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umfänglichen Bauarbeiten, welche im Fronttrakt stattfanden und so lästig waren, dass ich mich fragte, wie Wallis hier arbeiten konnte. Doch das erklärte sich rasch, als wir die Räume des Professors betraten und ihn selbst trafen, denn Doktor Wallis war ganz offens ichtlich schwerhörig, was ja bei einem Mann seines Alters auch nicht weiter verwunderte. Er war mittelgroß, mit einem kleinen Kopf und offenkundig nicht mehr so gut auf den Beinen, denn er stützte sich auf einen Stock und einen etwa vierzehnjährigen Knaben, welchen er uns als seinen Enkelsohn William vorstellte.
«Schau her, William», sagte der liebende Großvater. «Eines Tages wirst du sagen können, du hast einmal den
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