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Newtons Schatten

Newtons Schatten

Titel: Newtons Schatten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Philip Kerr
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nicht reagierte. Also brach ich auf und machte mich, schon jetzt erschöpft, auf den langen Rückmarsch zum Tower. Ich trug noch immer Miss Bartons Geruch an den Fingern, die Bestätigung, dass ich sie für einen
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    Moment besessen hatte, nur um dann verstoßen worden zu sein.
    Und ich fühlte mich wie jemand, dem man die Pforten des Paradieses ge zeigt hatte, nur um ihm dann den Eintritt zu verwehren. Weshalb ich nicht mehr Lust auf mein Leben hatte als Judas, wenn es ihn denn je gegeben hatte. Tatsächlich hätte ich mich vielleicht erhängt, so wie man es zunächst von Major Mornay geglaubt hatte, wenn ich jetzt nicht befürchtet hätte, dass danach gar nichts mehr wäre.
    Kein Wunder, dass die Frühchristen, fromme Lieder auf den Lippen, in den Märtyrertod gehen konnten, wenn sie glaubten, dass ihnen ein Platz im Himmel sicher war. Aber was war da für Atheisten, außer dem Nichts? Und ohne Miss Barton gab es nicht einmal ein Paradies auf Erden.
    Es war zwei Uhr, als ich den Tower Hill erreichte und ich hätte mich nicht elender fühlen können, wenn man mir gesagt hätte, dass ich am Morgen dort dem Scharfrichter und seinem Beil zuge führt würde. Im Löwenturm schrie eine der Großkatzen überaus jämmerlich, was klang wie meine eigene verzweifelte Seele, sodass ich mich im Geiste im Käfig meines eigenen Unglaubens auf und ab tigern sah. Ich passierte das Tor am Byward Tower ohne ein freundliches Wort für den Posten, Mister Grain und so in mein eigenes Unglück versunken, wie nur je irgendein Mann diesen düsteren Ort betreten haben konnte. Und als ich endlich in meinem Haus angelangt war, ging ich sofort zu Bett, konnte aber die ganze Nacht nicht schlafen.
    Also stand ich, kaum ausgeruht, um sechs Uhr auf und unternahm einen Rundgang auf den Mauern, um meinen Kopf von dem frischen Wind durchblasen zu lassen, welcher jetzt von Deptford her die Themse heraufwehte. Londons morgendliche Geschäftigkeit stand in scharfem Kontrast zu meiner eigenen unnatürlichen Dumpfheit. Am Tower-Kai wurden Schleppkähne mit Holz und Kohle entladen, während Dreimaster in Richtung Chatham und offene See aufbrachen. Vor der Westmauer, im Schussfeld der anderthalb Dutzend stadtwärts gerichteten
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    Kanonen, stellten Mägde mit breitkrempigen Strohhüten große Körbe voller Früchte, Brot und Gemüse auf die zerfallenen Mauern des alten Festungsvorwerks, um von der Kundschaft zu profitieren, welche bereits zu Fuß oder zu Pferd unterwegs war.
    Hinter mir knatterte die Sankt-Georg-Fahne wie ein Segel im unverminderten Wind; um sieben Uhr feuerte die Kanone auf dem Brass Mount ihren persönlichen Salut an den neuen Tag und Soldaten marschierten so steif um den Inne r Ward wie Jahrmarktsspielzeuge. Und bei alledem war mir, als ginge die Welt ihren Gang ohne mich, als sei ich nichts weiter als ein Stäubchen in einem Sonnenstrahl.
    Kummerschweren Herzens ging ich so gegen acht in die Münze und beschäftigte mich damit, Aussageprotokolle in anderen Fällen, mit denen wir befasst waren, abzulegen, bis Doktor Newton kam und augenblicklich von seiner nächtlichen Arbeit an der Geheimschrift zu erzählen begann, denn er hatte sich offenbar gar nicht zu Bett gelegt. Doch ich war dabei die ganze Zeit unruhig, weil ich nicht erfahren konnte, wie es zwischen Miss Barton und mir stand und ob sie am Morgen noch sehr böse auf mich gewesen war.
    «Ich habe die Lösung gefunden», sagte er, auf die Geheimschrift bezogen. «Jedenfalls einen Anfang.»

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    VIERTES KAPITEL

    UND FURCHT KAM ÜBER MICH UND FREUDE, DENN
    ICH SAH EIN NEUES LICHT, DAS HELLER WAR ALS
    DAS TAGESLICHT.
    Apokalypse des Petrus

    Ich war zu aufgewühlt von dem, was zwischen Miss Barton und mir geschehen war, um mich wirklich für Newtons Erkenntnis in Sachen Geheimschrift zu interessieren, heuchelte aber dennoch eine gewisse Aufmerksamkeit, während er höchst animiert davon sprach. Das Einzige, was ich bei alledem wirklich verstand, war, dass Miss Barton ihrem Onkel nichts von unserem Zerwürfnis erzählt hatte und so beschloss ich rasch, auch nichts davon zu sagen, obwohl es mir den größten Kummer meines Lebens verursacht hatte.
    «Die Bildung einer Hypothese zu dieser Geheimschrift war mit großen Schwierigkeiten behaftet», erklärte Newton. Er saß am Tisch, seine Papiere vor sich ausgebreitet und den Kater Melchior auf dem Schoß. «Wie ein Blinder keine Idee von der Farbe hat, so hatte ich keine Idee, wie diese Chiffre funktionierte. Ich weiß es

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