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Newtons Schatten

Newtons Schatten

Titel: Newtons Schatten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Philip Kerr
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bis jetzt nicht. Ich muss gestehen, der Schlüssel entzieht sich mir noch immer. Doch ich glaube jetzt zu verstehen, wie diese Geheimschrift mit den Morden zusammenhängt. Das nicht schon früher erkannt zu haben erscheint mir jetzt so absurd, dass ich mich doch allmählich frage, was dieses Münzamt meinem Verstand antut. Denn ich glaube, kein Mensch, welcher in philosophischen Dingen eine genügende Denkfähigkeit hat, dürfte einem solchen Irrtum verfallen.
    Da Ihr, mein Freund, die Dinge gern einfach habt, will ich mich
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    so kurz wie möglich fassen. Drei Morde gingen mit verschlüsselten Botschaften einher. An diesen Chiffren habe ich gearbeitet wie Herkules. Und doch habe ich, trotz all dieser Mühen, trotz all meiner gottgegebenen Waffen, nichts herausbekommen als mathematische Widersprüche. Und eine contradictio in adjecto spricht am ehesten für eine fehlerhafte Begriffsbildung. Mit anderen Worten, es stimmt etwas nicht mit der Logik des Codes, denn er ist meiner Meinung nach in einem Teil des Materials ignorant produziert worden, das heißt von jemandem, der das Prinzip der Chiffre nicht kannte.
    Ihr wart es, junger Freund, der mich auf diese Idee brachte. Ihr wart derjenige, der sagte, man könne meinen, diese Morde seien von verschiedenen Leuten verübt worden. Zu dieser Überzeugung bin ich ebenfalls gelangt, wenn auc h leider erst letzte Nacht.
    Nun, der Mord an George Macey war insofern eine klare Sache, als er, abgesehen von der Brutalität der Tötungsmethode, keine besonderen Eigentümlichkeiten aufwies. Da waren keine verschlüsselten Botschaften, keine Zeichen mit hermetischer Bedeutung.
    Dann wurde es interessant. Die Morde an Mister Kennedy und Mister Mercer gingen beide mit hermetischen Zeichen und verschlüsselten Botschaften einher und eine ganze Zeit lang glaubte ich, dass auch der Mord an Macey vielleicht solche Eigentümlichkeiten aufgewiesen hatte, welche wir nur der Zeit und der Verwesung wegen nicht mehr erkennen konnten.
    Doch mit dem Mord an Major Mornay änderte sich das Bild erneut. Diesmal fanden wir eine verschlüsselte Botschaft, aber nichts, was auch nur im Entferntesten hermetisch gedeutet werden könnte. Und jetzt kommt etwas Seltsames, Ellis: Nur der zweite und der dritte Mord weisen eine sichtbare Konsistenz auf, aber nur zwischen dem zweiten und dem vierten Mord besteht eine mathematische Konsistenz. Denn beim dritten Mord, dem an Mister Mercer, welcher uns von allen die kürzeste
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    Botschaft lieferte jene, die in Kreideschrift an der Mauer der Sally-Port-Treppe stand, wurde die Geheimschrift ohne erkennbare Logik verwandt, was mich zu der Vermutung bringt, dass der Urheber des dritten Mordes nicht der des vierten sein kann. Und dass die Geheimschrift an der Mauer neben Mercers Leichnam eine Fälschung war. Oder, um es anders auszudrücken, dass sie ignorant produziert wurde, wie ich schon sagte.»
    «Und das Schr iftstück, welches uns Mister Twistleton gab?», fragte ich. «Wurde da die Chiffre auch ignorant produziert?»
    «Nein, nein», sagte Newton. «Dieses Schriftstück weist dieselbe Logik auf wie die anderen Briefe. Nur die Botschaft, welche mit Kreide an die Treppenmauer geschrieben war, ist eine Fälschung. Daher habe ich sie jetzt gänzlich ausgemustert.» Er schüttelte müde den Kopf. «Das hat mich viel Zeit gekostet.
    Ohne diese Erschwernis hätte ich die ganze Sache vielleicht längst durchschaut.»
    Newton hieb so heftig mit der Faust auf den Amtsstubentisch, dass Melchior erschrocken von seinem Schoß sprang. «Wenn ich nur noch eine weitere Probe dieser Chiffre hätte», sagte er und schlug erneut auf den Tisch, was mich endgültig aus meinem versunkenen Zustand riss. «Denn ich bin sicher, ich könnte sie jetzt entschlüsseln.»
    Immerhin hatte Newton mich nicht beschuldigt, die Schrift an der Mauer neben Mercers Leichnam falsch abgeschrieben zu haben, wofür ich dankbar war, aber was ich da aus seinen Worten heraushörte, schockierte mich dennoch nicht wenig.
    «Aber das ist ja beinahe, als würdet Ihr sagen, Ihr wünscht Euch einen fünften Mord», sagte ich ungläubig. «Sind vier nicht genug?»
    Ich schüttelte den Kopf. «Oder gedenkt Ihr, den nächsten auch noch zu provozieren?»
    Newton schwieg und wich meinem Blick aus, da er alle
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    Düsternis, die darin lag, fälschlicherweise auf sich bezog.
    «Ihr nehmt das zu leicht, Doktor», sagte ich mahnend. «Als wäre es nur eine mathematische Übung, so wie das Problem, mit

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