Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Newtons Schatten

Newtons Schatten

Titel: Newtons Schatten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Philip Kerr
Vom Netzwerk:
stärker gewesen, hätten sie diesen Enthüllungen besser standgehalten.»
    Ich schüttelte den Kopf. «Wenn man bedenkt, was hätte passieren können, Sir. Ihr müsst sofort nach Hause fahren.»
    «Warum?»
    «Meint Ihr nicht, dass Eure Nichte, Miss Barton, ängstlich
    -309-

    darauf wartet, den Ausgang zu erfahren?»
    Doch er war mit seinen Gedanken bereits woanders.
    «Die ganze Sache war eine höchst unwillkommene Ablenkung von der eigentlichen Aufgabe», sagte er. «Der Dechiffrierung dieser verdammten Geheimschrift. Ich habe mir das Gehirn zermartert und vermag doch immer noch nichts damit anzufangen.»
    In den folgenden Wochen kam Newton mit der Geheimschrift nur langsam voran. Was mich veranlasste, ihm eines Tages in der Amtsstube vorzuschlagen, doch Doktor Wallis aus Oxford um Hilfe zu bitten. Aber Newton quittierte diesen Vorschlag nur mit Hohn und Verachtung.
    «Wallis um Hilfe bitten?», sagte er ungläubig, während er den Kater zu streicheln begann. «Da würde ich eher noch Melchior konsultieren. Es ist eine Sache, sich von einem Manne Bücher auszuleihen, aber eine gänzlich andere, seinen Verstand in Anspruch zu nehmen. Zu Wallis gehen, den Hut in der Hand und ihm gestehen, dass mich diese Chiffre ratlos macht? Dieser Mann würde Himmel und Hölle in Bewegung setzen, um etwas zu vollbringen, was ich nicht scha ffe und es anschließend aller Welt erzählen. Ich würde es ewig vorgehalten bekommen.
    Lieber stoße ich mir einen blanken Dolch in die Seite, als mir von ihm einen ewigen Stachel ins Fleisch setzen zu lassen.»
    Newton nickte ärgerlich. «Aber es ist gut, dass Ihr mir das vorschlagt, denn es wird mein Gehirn anspornen, dieses Rätsel zu lösen. Denn ich werde nicht klein beigeben wie ein gewöhnlicher Arithmetiker, welcher anwenden kann, was er gelernt oder gesehen hat, welcher aber, wenn er einen Fehler macht, nicht weiß, wie er ihn finden und korrigieren soll und, einmal von seinem Weg abgebracht, gar nicht mehr weiterkommt.
    Ja, Sir, Ihr spornt mich bei Gott an, beweglich und umsichtig an die Häufigkeiten heranzugehen, denn ich schwöre Euch, ich
    -310-

    werde nicht ruhen, ehe ich nicht alle Widrigkeiten überwunden habe.»
    So lernte ich Folgendes: Je gescheiter ein Mensch ist, desto fester glaubt er daran, dass er Rätsel zu lösen vermag, welche kein anderer lösen kann, was letztlich Platons Theorie belegt, dass Wissen Glauben impliziert, aber darüber hinausgeht.
    Von da an sah man Newton fast nie mehr ohne einen Bleistift und ein Blatt Papier voller Buchstaben und algebraischer Formeln, mittels deren er die Chiffre zu entschlüsseln suchte.
    Und zeitweilig vergaß ich völlig, dass er daran arbeitete. Aber ich erinnere mich sehr gut an den Tag, an dem Newton endlich den Code entschlüsselte. Plötzlich war überall die Rede von einem Friedensvertrag, welchen die Franzosen zu unterzeichnen im Begriff seien. Schon seit Mai liefen offizielle Verhandlungen zwischen uns und ihnen, in der holländischen Stadt Rijswijk.
    Das war auch gut so, denn es war allgemein bekannt, dass unsere Flotte in desolatem Zustand in Torbay vor Anker lag, da es ihr, aufgrund der Münzknappheit, an Versorgungsgütern mangelte. Mein Bruder Charles sagte sogar, wir hätten uns Geld von den Holländern leihen müssen, um englische Seeleute zu bezahlen und wenn das stimmte, dann konnte uns wohl nur ein Friedensschluss retten.
    Es war am siebenundzwanzigsten August 1697 und ich erinnere mich noch genau, dass ich ein wenig überrascht war, als Newton meine Nachricht vom bevorstehenden Frieden gar nicht zur Kenntnis nahm, sondern mir vielmehr triumphierend mitteilte, die Briefe seien jetzt dechiffriert und ergäben auf der Stelle einen plausiblen Sinn.
    Ich glaubte ihm sofort, die immense Befriedigung in seinem Gesicht war unübersehbar und gratulierte ihm aufs Herzlichste.
    Dennoch bestand er darauf, mir das System des Codes zu demonstrieren, damit ich auch wirklich überzeugt wäre. Newton zog seinen Stuhl an unseren Amtsstubentisch und zeigte mir, nachdem er Melchior von seinen Papieren geschoben hatte, die
    -311-

    vielen Seiten mit seinen ausgiebigen
    Entschlüsselungsbemühungen.
    «Tatsächlich», erklärte er aufgeregt, «kam mir schon vor ein paar Tagen eine Ahnung, wie ich zu einer Lösung gelangen könnte, aber nur sehr vage. Jetzt jedoch habe ich erkannt, dass es bei alledem um Konstanten und Funktionen geht, was nur ein gröberes System meiner eigenen Fluxionen darstellt.
    Der Code basiert letztlich

Weitere Kostenlose Bücher