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Newtons Schatten

Newtons Schatten

Titel: Newtons Schatten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Philip Kerr
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zu untersuchen.
    Er entfernte zuerst den Stoff, der den Mund des armen Kennedy verstopfte und fand, als er mit den Fingern in dem Brei aus blutiger Fleischmasse und abgebrochenen Zähnen herumtastete, einen glatten Stein. Diesen wickelte er sorgsam in sein Taschentuch, das er mir dann zur Aufbewahrung übergab.
    «Warum in aller Welt...», begann ich eine Frage, die zu Ende zu führen ich jedoch nicht für ratsam hielt, als mich Newtons verdrossener Blick traf.
    «Ihr kennt doch die angemessene Methode, Mister Ellis, also enthaltet Euch bitte müßiger Fragen, welche mir meine Untersuchung nicht gerade erleichtern.»
    Mit diesen Worten drehte er Kennedy auf das, was noch von dessen Bauch übrig war, um eine Schnur zu inspizieren, die um das noch vorhandene Handgelenk geknüpft war.
    «Wo ist der andere Arm?», sagte er so kühl, als hätte ich ihn womöglich persönlich entwendet.
    «Ich glaube, den hat immer noch einer der Löwen, Sir.»
    Newton nickte stumm und inspizierte dann Kennedys Taschen, welchen er mehrere Gegenstände entnahm, um sie mir anzuvertrauen. Schließlich schien er fertig und spülte sich die Hände in der herbeigeschafften Wasserschüssel. Dann erhob er sich, trocknete sich die Hände und sah sich in der Menagerie um. «Welcher Löwe?», fragte er.
    Ich zeigte quer durch den Hof und Newtons Blick folgte meinem Zeigefinger zu einem der Käfige, wo sich der Löwe, unter den Augen des Tierwärters und mehrerer Wachsoldaten, noch immer in aller Ruhe an Mister Kennedys Bein gütlich tat.
    Newton zog seinen Rock wieder an, ging zu dem Käfig hinüber, nahm eine Sturmlaterne von der Wand und leuchtete in das Gewölbe hinter den Gitterstäben, das die Wohnstatt des Löwen war.
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    «Das Bein sehe ich», bemerkte er. «Aber den Arm nicht.»
    Der Wärter zeigte in den hinteren Teil des Gewölbes. «Dort liegt er, Sir», sagte er. «Es ist uns leider nicht gelungen, die Gliedmaßen des unglücklichen Gentleman zu bergen, Sir.»
    «Der Faule spricht: Es ist ein Löwe auf dem Wege.»
    «Pardon, Sir?»
    «Sprüche sechsundzwanzig, Vers dreizehn.»
    «Genau, Sir», sagte der Wärter. «Rex, so heißt der Löwe. Er weigert sich, sie herzugeben. Meistens kriegen sie ja Pferdefleisch, die Löwen. Aber er hat eindeutig Geschmack an Menschenfleisch gefunden.»
    «Meine Augen sind nicht mehr das, was sie einmal waren», sagte Newton. «Aber ist das nicht ein Stück Schnur, dort um das Handgelenk?»
    «Ist es», sagte ich.
    «Dann war es zweifellos Mord. Jemand hat Mister Kennedy hier heruntergebracht, ihm die Hände gefesselt und dann den Löwen aus dem Käfig gelassen. Wie ist die Käfigtür gesichert?»
    «Mit diesen beiden Riegeln, Sir.»
    «Kein Schloss?»
    «Das hier sind Tiere, Sir. Keine Gefange nen.» Doch noch während der Wärter dies sagte, sah der Löwe von seinem Menschenfleischmahl auf und brüllte uns so grimmig an, als wollte er dieser Behauptung widersprechen. Es war eine Furcht einflößende Bestie, ein großes männliches Tier mit mächtigen Reißzähnen und einer gewaltigen Mähne, die jetzt blutverschmiert war.
    «Beachtet die Farbe dieses Löwen», sagte Newton zu mir. «Er ist ziemlich rot, nicht wahr?»
    Zu diesem Zeitpunkt dachte ich, das interessiere ihn, weil Rot seine Lieblingsfarbe war und erst später sollte er mir erklären, worin er die Bedeutung des roten Löwen sah.
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    «Wer hat den Leichnam gefunden?», fragte er.
    «Ich, Sir», sagte der Wärter, der den Kopf wie in ständigem Gebet gesenkt hielt, sodass Newton all seine Fragen an die spiegelnde Glatze des Mannes richtete. «Ich schlafe bei der Ordonance, Sir. In den Tower-Kasernen. Ich habe den Schlüssel wie immer hingehängt, so um acht, Sir. Ich habe den Tower verlassen, Sir, um in ein Wirtshaus in der Gegend zu gehen, wie ich es immer tue, weil ich das Stone Kitchen nicht sonderlich mag. Dann bin ich ins Bett gegangen. Ich bin aufgewacht, weil die Tiere brüllten, obwohl sie doch schlafen sollten. Und weil ich dachte, dass mit ihnen irgendwas nicht stimmte, bin ich nachschauen gegangen und habe das blutige Schlachtfeld entdeckt, welches Ihr jetzt vor Euch seht, Sir.»
    «Die Tür zum Löwenturm, Mister Wadsworth. Ist die nachts abgeschlossen?»
    «Ja, Sir. Immer. Der Schlüssel hängt in der Wachstube im Byward Tower. Immer, außer heute Nacht. Als ich ihn holen wollte, war er weg. Ich dachte, es hätte ihn schon jemand geholt, um dem Aufruhr auf den Grund zu gehen. Aber dann war ich als Erster hier und fand den

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