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Newtons Schatten

Newtons Schatten

Titel: Newtons Schatten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Philip Kerr
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worden.
    Inmitten lauten Fauchens und Brüllens, da man das Tier gerade erst mit Piken und Hellebarden in seinen Käfig zurückgetrieben hatte, betrat ich den Löwenturm, der seit der Restauration das beliebteste Ziel der Tower-Besucher war. Dieser Turm war nach oben hin offen und die Tierkäfige befanden sich in den Außenmauern, sodass in der Mitte ein großer Auslauf blieb, welcher sich jetzt als Schauplatz eines schier unbeschreiblichen Blutbades darbot.
    Auf dem Boden war eine solche Menge Blut, dass meine Schuhe bald davon klebten und in einer Ecke des freien Platzes lag das, was noch von Mister Kennedys Leichnam übrig war. Obwohl
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    sein Hals fast durchgebissen und sein Mund mit Stoff verstopft war, war sein Gesicht doch eindeutig zu erkennen und sei es nur am Fehlen der künstlichen Nase, welche ganz in der Nähe am Boden lag und im hellen Mondschein funkelte wie der dekorative Kürass eines Dragoners. Er war böse zugerichtet, mit tiefen Tatzenspuren am Bauch, durch die man das Gedärm sah und ihm fehlten ein Arm und ein Teil des einen Beins, wenn es auch kein großes Rätsel darstellte, wo beides gelandet war.
    Mehrere Ordnance-Soldaten standen mit Piken herum, während der Tierwärter damit beschäftigt war, den Käfig, in den man den mörderischen Löwen inzwischen zurückbugsiert hatte, zu verriegeln.
    Einen der Soldaten kannte ich, denn es war Sergeant Rohan und ich ersuchte ihn dringend, dafür zu sorgen, dass der Leichnam nicht angerührt und der Schauplatz nicht zertrampelt würde, ehe mein Herr nicht Gelegenheit gehabt hätte, beides zu untersuchen.
    «Von Rechts wegen, Mister Ellis», knurrte der Sergeant, «ist das hier Sache der Ordona nce, nicht der Münze. Löwen fallen nicht in Euren Zuständigkeitsbereich, es sei denn, sie zieren eine Silberkrone.»
    «Das ist richtig, Sergeant. Aber der Mann, der hier getötet wurde, stand im Dienst der Münze und sein Tod könnte deren Belange durchaus tangieren.»
    Sergeant Rohan nickte. Sein massiges Gesicht war vom Fackelschein nur zum Teil erhellt, sodass sein Mund im Dunkel lag. «Das mag sein. Aber darüber wird Lord Lucas entscheiden.
    Falls es gelingt, ihn zu wecken. Ich denke daher, je eher Ihr Euren Herrn hierher holt, desto besser. Mögen die beiden die Sache austragen wie zwei Titanen und wir halten uns heraus, einverstanden?»
    Ich nickte.
    «Eine recht unappetitliche Angelegenheit, was?», fuhr er fort.
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    «Ich habe Männer gesehen, die von Bajonetten durchbohrt, von Geschützgranaten in Stücke gerissen oder von Klingen in Stücke gehackt worden waren, aber einen von Löwen zerkauten Mann habe ich noch nie gesehen. Das flößt mir einen ganz neuen Respekt vor den frühchristlichen Märtyrern ein. Sich um Christi willen von solchen Bestien zerreißen zu lassen, nun, das ist bei Gott wahre Glaubensinbrunst.»
    «Ja, das ist es in der Tat», sagte ich, obwohl ich mich sofort fragte, was mein Herr wohl über jene Frühchristen sagen würde, mit denen die Römer in ihren Arenen ein solches Spektakel veranstaltet hatten. Waren sie in Newtons Augen ebenfalls irrgläubig gewesen?
    Ich überließ Sergeant Rohan seinen Betrachtungen christlicher Tapferkeit und rannte in die Tower Street, in der Absicht, mir im Dolphin oder im King's Head ein Pferd zu mieten, um in die Jermyn Street zu reiten, da ich nicht damit rechnete, zu dieser Stunde eine Mietkutsche zu finden. Aber da war doch eine, die gerade gegenüber vom Custom House einen Fahrgast absetzte und obwohl der Kutscher mich zuerst nicht einsteigen lassen wollte, weil es schon so spät war und er heim nach Stepney wollte, was genau in der entgegengesetzten Richtung liegt, konnte ich ihn doch überreden, indem ich ihm eine hübsche Belohnung versprach. Und binnen einer Stunde war ich mit Newton in ebenjener Mietkutsche wieder im Tower angelangt, nur um zu erfahren, dass Lord Lucas immer noch nicht da war.
    Es hieß, er sei zu betrunken, was meinen Herrn höchlichst entzückte.
    Nachdem er ein paar Worte mit Sergeant Rohan gewechselt hatte, spazierte Newton in der Menagerie herum wie ein Architekt, der jeden Zoll des Ortes erfahren will, welcher vor seinem geistigen Auge Gestalt annehmen soll. Kurz darauf bat er einen der Wachsoldaten, ihm eine Schüssel Wasser und ein Handtuch zu bringen und nachdem er seinen Mantel abgelegt und mir gegeben hatte, rollte er trotz der Kälte seine
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    Hemdsärmel auf. Dann holte er etwas sauberes Stroh und kniete sich neben den Leichnam, um diesen

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