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Newtons Schatten

Newtons Schatten

Titel: Newtons Schatten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Philip Kerr
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vielleicht sogar darüber hinaus, zum Mond und zu den Sternen, ja zur Sonne selbst. Ich habe noch nie einen solchen Menschen gekannt. Niemand hat je einen solchen Menschen gekannt.»
    «Beim Blute des Herrn, Kid, du stellst ihn ja hin wie einen Unsterblichen.»
    «Sein Name und seine Reputation werden gewiss überdauern.»
    «Wenn doch Reputation etwas so Dauerhaftes wäre», sagte Charles. «Bei den Wunden des Herrn, wenn er sich des Ruhmes der Nachwelt so sicher ist, dann frage ich mich, warum ihn Menschen wie ich warnen müssen, dass diese Welt voller
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    Feinde von ihm ist. Denn es gibt Leute, welche wünschten, der Münzwart wäre weniger gewissenhaft in der Wahrnehmung seiner Pflichten. Gewisse Tory-Gentlemen, die ihn gern seines Amts enthoben sähen und ihm nachzuweisen suchen, dass er es schlecht führt.»
    «Warum haben sie ihn dann ernannt? Er hat doch selbst darum gebeten, seine forensischen Pflichten dem Kronanwalt zu übertragen, oder nicht?»
    «Es gab Leute, die glaubten, nachdem er sich fünfundzwanzig Jahre im Trinity vergraben hatte, würde er wenig Ahnung von der Welt haben. Und einen höchst gefügigen Münzwart abgeben. Deshalb haben sie seiner Ernennung zugestimmt.
    Versteh mich recht, Bruder. Ich bin auf seiner Seite. Aber es gibt andere, die ihm gern irgendeine Unredlichkeit nachweisen würden. Auch wenn es gar keine gäbe, wenn du verstehst, was ich meine.»
    «Ich kenne wahrhaftig keinen redlicheren Mann», sagte ich.
    «Wenn schon keine Unredlichkeit», fuhr Charles fort, «dann vielleicht eine Abweichung von dem, was als orthodox gilt. Ich hoffe, du verstehst mich.»
    Darauf schwieg ich, lange genug, dass mein Bruder nickte, als hätte er Newton entlarvt. «Ja», sagte er, «ich dachte mir, dass dich das zum Schweigen bringen würde, Bruder. Dein Herr steht im Verdacht, gewissen abweichenden Überzeugungen anzuhängen, um es milde auszudrücken. Und es gibt andere Leute, welche nicht gewillt sind, es milde auszudrücken. Es gab Gerede. Das Wort Häresie ist gefallen. Und man wird ihn entlassen, wenn sich Beweise dafür finden.»
    «Das ist doch nur Geschwätz.»
    «Geschwätz, ganz recht. Aber wann blieb auf dieser Welt Geschwätz je unbeachtet? Hör mir gut zu, Kid. Denn das ist der Hauptgrund, weshalb ich dich heute hierher gebeten habe.
    Damit du deinen Herrn behutsam warnst, auf der Hut zu sein
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    und sich für den Moment zu rüsten, da seine Feinde losschlagen werden. Was gewiss in Bälde geschehen wird.»
    Das alles erzählte ich Newton, als ich ihn in unserer Amtsstube in der Münze traf.
    «So etwas befürchte ich schon seit geraumer Zeit», gab er zu.
    «Nichtsdestoweniger bin ich Eurem Bruder zu tiefem Dank verpflichtet. Vorgewarnt sein heißt gewappnet sein. Dennoch darf ich daraus wohl schließen, dass bislang nichts Konkretes gegen mich vorliegt, sondern nur ein Haufen Geifer und Boshaftigkeit.»
    «Was werdet Ihr jetzt tun?», fragte ich.
    «Oh, gar nichts», rief Newton aus. «Nur meine Pflicht. Und Ihr auch. Wir müssen das einfach beiseite schieben. Seid Ihr einverstanden?»
    «Wenn Ihr es wünscht.»
    «Ich wünsche es aufrichtigst.» Er hielt inne, hob Melchior auf seinen Schoß und begann, das Fell des Katers zu streicheln, wie ein Kampfhahnzüchter vom Shakebag-Club das erpelgrüne Gefieder seines Champions glättet. Ich erwog schon, ihn eine Weile mit seinen Gedanken allein zu lassen, als er plötzlich sagte: «Dieser Major Mornay. Wir müssen ihn genau studieren, ihn wie durch ein Prisma betrachten und feststellen, ob er refrangibel ist oder nicht.»
    «Ihr seid mir voraus, Doktor», erklärte ich. «Ich muss gestehen, ich weiß nicht, was Ihr mit diesem Wort meint.»
    «Wie?», rief Newton aus. «Wollt Ihr sagen, Ihr kennt mein experimentum crucis nicht?»
    Ich gab zu, dass dem so war und so gingen wir in mein Haus, wo Newton in einer alten messingbeschlagenen Truhe kramte, ein von ihm selbst geschliffenes Prisma hervorholte und mir demonstrierte, dass das gewöhnliche Tageslicht eine komplexe Mischung von Farben war und dass er Letztere, indem er ein
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    zweites Prisma in das mittels des ersten erzeugte Spektrum hielt, von ihrem bisherigen Kurs ablenken konnte wie Wasserläufe.
    Diese Ablenkung nannte Newton Refraktion oder Brechung und die Eigenschaft der Brechbarkeit nannte er Refrangibilität. Alle Spektralfarben waren unveränderlich und unzerlegbar.
    «Betrachtet dies als nützlichen Anschauungsunterricht für all diejenigen, deren Tätigkeit

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