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Nexus

Nexus

Titel: Nexus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Henry Miller
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zerstört. Alles zerbröckelte, wenn ich es nur berührte.
    Einer Denkmaschine macht es wenig aus, ob ein Problem im Minusoder Plus-Bereich gestellt ist. Wenn ein Mensch erst auf die Rutschbahn gerät, ist es genau dasselbe. Oder fast dasselbe. Die Maschine kennt kein Bedauern, keine Reue, kein Schuldgefühl. Es treten nur dann Störungen ein, wenn man sie nicht richtig geschmiert hat. Aber der Mensch, der sich der grauenhaften Geistmaschine bedient, hat keine Gnade zu erwarten. Kein einziges Mal kann er, wie unerträglich die Lage auch ist, den Kampf aufgeben. Solange noch ein Hauch Leben in ihm ist, wird er sich jedem Dämon, dem es gefällt, Besitz von ihm zu ergreifen, als Opfer anbieten. Und wenn keiner oder nichts da ist, der oder was ihn quälen, verraten, erniedrigen oder unterminieren kann, dann wird er sich selbst quälen, verraten, erniedrigen oder unterminieren.
    Im luftleeren Raum des Geistes leben, heißt, immer «diesseits des Paradieses» leben, aber so gründlich, so völlig, daß selbst die Totenstarre als Veitstanz erscheint. So düster, öde und schal das Alltagsleben auch sein mag, nie reicht es an die Qual dieser endlosen Leere, durch die man bei vollem, wachem Bewußtsein ziellos umherirrt. In der nüchternen Wirklichkeit des Alltags gibt es die Sonne und den Mond, Blüten sowohl wie verwelkte Blätter, Schlaf und Wachsein, Traum und Albdruck. Aber in dem luftleeren Raum des Geistes gibt es nur ein totes Pferd, das mit bewegungslosen Füßen läuft, ein Gespenst, das sich an ein unergründliches Nichts klammert.
    Und so galoppierte ich wie ein totes Pferd, dessen Herr nie müde wird, die Peitsche zu schwingen, bis zu den fernsten Enden des Weltalls und fand nirgendwo Frieden, Trost oder Ruhe. Seltsamen Phantomen begegnete ich auf diesen ungestümen Ritten. Gräßliche Ähnlichkeiten bestanden zwischen uns, aber nie gab es zwischen uns die geringste Beziehung. Die dünne Hautmembrane, die auch der mächtigste Strom nicht durchdringen konnte.
    Wenn es einen entscheidenden Unterschied zwischen Lebenden und Toten gibt, so ist es der, daß die Toten aufgehört haben zu staunen. Aber wie die Kühe auf dem Felde haben die Toten endlose Zeit zum Wiederkäuen. Bis zu den Knien im Klee stehend, kauen sie noch, wenn der Mond untergeht. Für die Toten gibt es Welten auf Welten zu durchforschen. Welten, die nur aus Materie bestehen, Materie ohne Inhalt, Materie, durch welche die Geistmaschine hindurchpflügt, als wäre sie weicher Schnee.
    Ich erinnere mich an die Nacht, in der mir das Staunen verging. Kronski hatte mir ein paar harmlose weiße Pillen zu schlucken gegeben. Ich nahm sie ein, und als er fort war, öffnete ich die Fenster weit, warf die Decken weg und legte mich splitternackt aufs Bett. Draußen ein wütendes Schneegestöber. Wie aus einem Ventilator pfiff der eisige Wind in die vier Ecken des Zimmers.
    Ich schlummerte friedlich wie eine Wanze. Kurz nach der Morgendämmerung öffnete ich die Augen und staunte, daß ich mich nicht im Jenseits befand. Aber ich konnte kaum sagen, daß ich noch unter den Lebenden weilte. Was gestorben war, weiß ich nicht. Ich weiß nur, daß alles, was unser sogenanntes «Leben» ausmacht, von mir gewichen war. Übriggeblieben war die Maschine . . . die Geistmaschine. Wie der Soldat, der endlich dahin gerät, wo er schon lange gern gewesen wäre, befand ich mich außerhalb der Kampfzone. Aux autres de faire h guerre!
    Leider hatte man meinem Kadaver keinen Zettel aufgeklebt, der meinen Bestimmungsort anzeigte. Zurück - zurück ging es, oft mit der Geschwindigkeit einer Kanonenkugel.
    Obschon mir alles vertraut erschien, eindringen konnte ich nirgendwo. Wenn ich sprach, klang meine Stimme wie ein rückwärts ablaufendes Tonband. Mein ganzes Wesen war in Unordnung geraten.
    ET HAEC OLIM MEMINISSE IUVABIT!
    Ich war hellsichtig genug, diese unvergeßlichen Zeilen aus der Aeneis auf den Toilettekasten über Stasias Koje zu schreiben.
    Vielleicht habe ich die Örtlichkeit bereits beschrieben. Macht nichts. Auch tausend Schilderungen können niemals die Eigentümlichkeit der Atmosphäre wiedergeben, in der wir lebten und uns bewegten. Denn hier gab ich mich meinem Wahnsinn hin, wie der Gefangene von Chillon, wie der göttliche Marquis, wie der irrsinnige Strindberg. Ein toter Mond, der es aufgegeben hatte, sein wahres Gesicht zu zeigen.
    Es war gewöhnlich dunkel, das haftet am meisten in meiner Erinnerung. Das kalte Dunkel des Grabes. Da ich während eines

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