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Nexus

Nexus

Titel: Nexus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Henry Miller
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Schneesturms in diesen Zustand geraten war, hatte ich den Eindruck, die ganze Welt außerhalb unserer Tür würde für immer mit einem weichen weißen Filz tapeziert bleiben. Die Laute, die in mein krankes Gehirn eindrangen, klangen immer gedämpft - gedämpft durch die nie mehr schwindende Schneedecke. Es war ein Sibirien des Geistes, in dem ich wohnte, darüber gab es keinen Zweifel. Zu Gefährten hatte ich Wölfe und Schakale, deren klägliches Heulen nur durch das Klingeln von Schlittengeläut oder das Rumpeln eines Milchwagens auf dem Weg ins Land der mutterlosen Kinder unterbrochen wurde.
    Kurz vor der Morgendämmerung konnte ich gewöhnlich damit rechnen, daß die beiden Arm in Arm erschienen, frisch wie Gänseblümchen auf der Wiese. Ihre Wangen glitzerten von der Kälte und den Erlebnissen eines ereignisreichen Tages. Dann und wann kam irgendein Kassier, trommelte lange und laut an der Tür und schmolz dann in den Schnee hinein. Oder der verrückte Osiecki, der stets leise ans Fenster klopfte. Und es schneite immer weiter, manchmal mit großen nassen Flocken wie schmelzende Sterne, oder in wirbelndem Gestöber von Eiskristallen, die wie Injektionsnadeln in die Haut stachen.
    Während ich wartete, zog ich mir den Gürtel fester. Ich hatte die Geduld - nicht etwa eines Heiligen, nicht einmal die der Schildkröte, sondern die kalte berechnende Geduld eines Verbrechers.
    Die Zeit töten! Das Denken töten! Den quälenden Hunger töten! Ein einziges langes, ununterbrochenes Töten ... oh, köstlich!
    Wenn ich durch den fadenscheinigen Vorhang spähte und die Silhouette eines Freundes sah, öffnete ich wohl die Tür, mehr um frische Luft zu schnappen, als um eine verwandte Seele einzulassen.
    Die Begrüßung war immer dieselbe. Sie ging mir so in Fleisch und Blut über, daß ich sie rückwärts ablaufen ließ, wenn ich wieder allein war. Es war immer eine Ruy-Lopez-Eröffnung.
    «Was machst du nur den ganzen Tag?»
    «Nichts.»
    «Du wirst noch verrückt.»
    «Ich? Du bist wahnsinnig.»
    «Aber was tust du den ganzen Tag?»
    «Nichts.»
    Es folgte das unvermeidliche Grapsen nach ein paar Zigaretten und ein bißchen Kleingeld, dann ein Sprung in die Konditorei, um mir einen Käsekuchen oder ein paar Krapfen zu holen. Manchmal schlug ich eine Partie Schach vor.
    Die Zigaretten waren bald verraucht, dann gingen die Kerzen aus, und schließlich verebbte die Unterhaltung.
    Sobald ich wieder allein war, überfielen mich die köstlichsten, die außerordentlichsten Erinnerungen - an Personen, Orte und Unterhaltungen. Stimmen, Grimassen, Gebärden, Säulen, Mauerkappen, Gesimse, Wiesen, Bäche, Gebirge - sie stürzten wie Wogen über mich hinweg, niemals gleichzeitig, sondern auseinandergerissen und zerstreut - wie Blutklümpchen, die von einem klaren Himmel fallen. Da waren sie in extenso , meine verrückten Bettgenossen: die elendeste, wunderlichste, seltsamste Sammlung, die einer zusammenbringen kann. Alle waren Vertriebene, kamen aus geisterhaften Bereichen. Uitlanders alle zusammen. Aber wie zärtlich und liebenswert waren sie! Wie zeitweilig verbannte Engel, die ihre Flügel diskret unter dem zerfetzten Maskenmantel verborgen halten.
    Oft stieß ich im Dunkeln, wenn ich auf leeren Straßen um eine Ecke bog und der Wind wie ein Verrückter heulte, auf einen dieser Niemande. Er bat mich vielleicht um Feuer oder pumpte mich um ein Zehncentstück an. Wie kam es nur, daß wir sofort Arm in Arm gingen, sofort in das Kauderwelsch verfielen, das nur Gescheiterte, Engel und Geächtete gebrauchen?
    Häufig war es ein einfaches, offenes Geständnis von Seiten des Fremden, was die Räder in Bewegung setzte. (Mord, Diebstahl, Notzucht, Fahnenflucht - sie wurden hingeworfen wie Karten, wenn man einen Trumpf bedient.)
    «Sie verstehen, ich mußte ...»
    «Natürlich.»
    «Die Axt lag da, es war Krieg, der Alte immer betrunken, meine Schwester auf dem Strich ... Ich wollte übrigens immer schreiben, Schriftsteller werden .. . Sie verstehen?»
    « Selbstverständlich.»
    «Und dann die Sterne . .. Herbststerne. Und seltsame neue Horizonte. Eine Welt so neu und doch so alt. Immer auf dem Trab, in Verstecken, auf Nahrungssuche. Suchen, auskundschaften, betteln . .. Sich immer wieder häuten. Jeden Tag ein neuer Name, ein neuer Beruf. Immer auf der Flucht vor mir selbst. Sie verstehen?»
    «Natürlich.»
    «Über dem Äquator, unter dem Äquator . . . keine Ruhe, keine Atempause. Nie nichts nirgendwo. Strahlende, üppige reiche Welten,

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