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Nexus

Nexus

Titel: Nexus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Henry Miller
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geliebt haben, überzeugte Atheisten, überzeugte Verbrecher gewesen. Die Irrsinnigen aus Liebe, sozusagen. Ricardo war es gleichgültig, was für eine Ansicht sie von ihm hatten. Er konnte einem die Illusion geben, daß er das war, was er nach unserem Wunsche sein sollte. Doch blieb er dabei immer er selbst.
    Wenn ich ihn nie wiedersehen sollte, dachte ich, so werde ich ihn jedenfalls nicht vergessen. Mögen wir auch nur einmal im Leben das Glück haben, in die Nähe eines völlig echten und ursprünglichen Menschen zu kommen, so genügt das. Es ist mehr als genug. Man kann dann unschwer verstehen, warum ein Christus oder ein Buddha durch ein einziges Wort, einen Blick oder eine Gebärde die Natur und das Schicksal der verbogenen Seelen, die in ihren Umkreis gerieten, tief zu beeinflussen vermochten. Ebenso konnte ich verstehen, warum einige dafür unzugänglich waren.
    Mitten in diesen Überlegungen kam mir der Gedanke, daß ich vielleicht, wenn auch in weit geringerem Grade, eine ähnliche Rolle gespielt hatte, in jener unvergeßlichen Zeit, als ständig eine Schar unglücklicher Männer, Frauen und Jugendlicher aller Art in mein Büro strömten, die um ein Quentchen Verständnis, ein Zeichen der Vergebung, einen Gnadenstrahl bettelten. Als Leiter des Einstellungsbüros mußte ich ihnen entweder als hilfreiche Gottheit oder als finsterer Richter, vielleicht sogar als Henker erschienen sein. Ich hatte Macht nicht nur über ihr eigenes Leben, sondern auch über das ihrer Angehörigen, ja, sogar über ihre Seelen, wie es schien. Viele suchten mich nach Büroschluß auf und kamen mir oft wie Zuchthäusler vor, die sich durch die Hintertür der Kirche zum Beichtstuhl schleichen. Sie ahnten nicht, daß sie mich entwaffneten, wenn sie um Gnade flehten, mir meine Macht und Autorität entzogen. Nicht ich half ihnen in solchen Augenblicken, sondern sie halfen mir. Sie machten mich demütig und mitleidig und brachten mir bei, mich mitzuteilen.
    Wie oft fühlte ich mich nach einer herzzerreißenden Szene getrieben, über die Brooklyn-Brücke zu gehen, um mich zu sammeln. Wie entnervend, wie erschöpfend war es, als allmächtiges Wesen angesehen zu werden. Wie lächerlich und absurd auch, daß ich bei Ausübung meines Amtes die Rolle eines kleinen Christus spielen mußte! Wenn ich halbwegs auf der Brücke war, lehnte ich mich über die Brüstung. Der Anblick des dunklen, öligen Wassers da unten tröstete mich. In dem rauschenden Strom versenkte ich meine Gedanken und Gefühle.
    Noch besänftigender und bezaubernder waren für meinen Geist die farbigen Reflexe, die über die Wasserfläche tanzten. Sie waren wie Lampions, die im Winde schwankten. Sie verspotteten meine düsteren Gedanken und leuchteten in die gähnenden Abgründe meines inneren Elends. Hoch über dem strömenden Wasser hatte ich das Gefühl, von allen Problemen erlöst, von allen Sorgen und jeder Verantwortung befreit zu sein. Nicht einmal hielt der Fluß in seinem Lauf inne, um nachzudenken oder eine Frage zu stellen, nicht einmal versuchte er, seinen Lauf zu ändern. Immer vorwärts, vorwärts in ständigem Fluten. Wenn ich zum Ufer blickte, erschienen mir die Wolkenkratzer, die den Fluß überschatteten, wie Spielzeug. Wie zeitbedingt, wie armselig, wie eitel und anmaßend waren sie doch! In diese großartigen Grabmäler zwängten sich Tag für Tag Männer und Frauen, mordeten ihre Seelen, um Brot zu verdienen, verkauften sich, verkauften einander, ja, einige verkauften sogar Gott. Und abends strömten sie wieder heraus wie Ameisen, verstopften die Straßen, tauchten unter die Erde oder trotteten - klipp-klapp! - heimwärts, um sich von neuem zu begraben, diesmal nicht in den grandiosen Grabmälern, sondern als die abgearbeiteten und zerschundenen Jämmerlinge, die sie waren, in Schuppen und Kaninchenställen, die sie ihr «Heim» nannten. Bei Tag der Friedhof sinnloser Arbeit und Schufterei, nachts die Leichenhalle der Liebe und der Verzweiflung. Diese Geschöpfe, die so gelehrig gelernt hatten, zu rennen, zu betteln, sich selbst und ihre Mitmenschen zu verkaufen, wie Bären zu tanzen oder Kunststücke zu machen wie dressierte Pudel, immer und immer ihre wahre Natur zu verleugnen, diese selben elenden Wesen brachen ab und zu zusammen, weinten Tränenbäche des Elends, krochen wie Schlangen und stießen Töne aus, wie sie sonst nur von verwundeten Tieren zu hören sind. Durch diese schrecklichen Possenreißereien wollten sie zu verstehen geben, daß sie

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