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Nexus

Nexus

Titel: Nexus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Henry Miller
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euch in der bestimmtesten Weise klarzumachen, daß alles, worüber ihr sprecht, nur ein Haufen Pferdedreck für mich ist. Hier sitze ich, und schon steht mir die Scheiße bis zum Hals. Vielleicht werde ich einen neuen Trick versuchen und so tun, als ob ich neugierig und gespannt darauf wäre. «Wie heißt diese Operette? Eine schöne Stimme! Sehr schön! Sie sollten sie noch einmal singen, noch einmal. . . noch einmal!» Oder ich schleiche mich nach oben und suche die alte Carusoplatte heraus. Er hatte so eine bezaubernde Stimme, die muß ich noch einmal hören. («Ja, danke, eine Zigarre nehme ich gern.») Aber biete mir nichts mehr zu trinken an, bitte. Ich habe schon Sand in den Augen, nur mein alter Oppositionsgeist hält mich noch wach. Was würde ich nicht dafür geben, wenn ich mich in das kleine schäbige Schlafzimmer da oben am Flur schleichen könnte, in dem sich nicht einmal ein Stuhl, ein Teppich oder ein Bild befinden. Dort möchte ich in einen todesähnlichen Schlaf versinken. Wie oft, wenn ich mich dort auf das Bett warf, habe_ich gebetet, ich möchte nie mehr die Augen auftun! Einmal - weißt du's noch, liebe Mutter -hast du einen Eimer kaltes Wasser über mich geschüttet, weil ich ein nichtsnutziger Bummler war. Das ist richtig. Ich hatte dort schon achtundvierzig Stunden gelegen. Aber hielt mich Faulheit an die Matratze geheftet? Du wußtest nicht, Mutter, daß ich mit gebrochenem Herzen dalag. Du würdest darüber gelacht haben, wenn ich so dumm gewesen wäre, es dir anzuvertrauen. Dieses schreckliche kleine Schlafzimmer ! Ich muß dort tausend Tode gestorben sein. Aber ich hatte da oben auch Träume und Visionen. Ja, ich habe sogar gebetet in jenem Bett, wobei mir dicke Tränen über die Wangen kollerten. (Wie ich mich nach ihr sehnte, nur nach ihr!) Und als ich damit kein Glück hatte, als ich endlich aufstehen und der Welt wieder ins Gesicht blicken konnte, hatte ich nur einen lieben Gefährten, an den ich mich wenden konnte: mein Rad. Diese langen, scheinbar endlosen schnellen Fahrten, auf denen ich mir die bitteren Gedanken in die Arme und Beine trieb, treten, treten und rasch von der Stelle kommen! Wie der Wind flog ich über die glatten Kieswege, aber es nützte alles nichts. Jedesmal, wenn ich abstieg, sah ich ihr Bild, und mit ihm kehrten Schmerz, Zweifel und Angst zurück. Aber im Sattel sitzen und nicht bei der Arbeit, das war in der Tat etwas Herrliches. Das Rad war ein Teil von mir, es folgte meinen Wünschen. Nie erfüllten sie sich sonst. Nein, meine lieben, blinden, herzlosen Eltern, nichts, was ihr jemals zu mir sagtet, nichts, was ihr für mich tatet, gab mir eine solche Freude und einen solchen Trost wie mein Rennrad. Wenn ich euch nur auseinandernehmen könnte wie ein Rad, um euch liebevoll zu ölen und einzufetten!
    «Möchtest du nicht mit Vater einen Spaziergang machen?» Die Stimme meiner Mutter weckte mich aus meinen Träumereien. Wie ich in den Armsessel gefallen war, wußte ich nicht mehr. Vielleicht war ich eingenickt, ohne es zu merken. Jedenfalls fuhr ich beirr Ton ihrer Stimme auf.
    Ich rieb mir die Augen und sah, daß sie mir einen Spazierstock hinhielt. Es war der meines Großvaters. Ein fester Ebenholzstock mit einem geschnitzten Griff - ein Fuchs oder vielleicht war es ein Seidenäff chen.
    Im Nu war ich auf den Füßen und schlüpfte in den Mantel. Mein Vater stand schon bereit und schwang seinen mit einem Elfenbeinknopf versehenen Spazierstock. «Die Luft wird dich wieder frisch machen», sagte er.
    Instinktiv gingen wir auf den Friedhof zu. Der Alte besuchte ihn oft, nicht so sehr, weil ihn die Toten anzogen, sondern wegen der Bäume und Blumen, der Vögel und der Erinnerungen, die der Friede der Toten immer erweckt. An den Wegen standen Bänke, wo man sich hinsetzen und mit der Natur oder mit dem Gott der Unterwelt, wenn einem das lieber war, eins werden konnte. Ich brauchte mich nicht anzustrengen, um die Unterhaltung mit meinem Vater in Gang zu halten. Er war an meine ausweichenden, lakonischen Antworten, an meine schwachen Ausflüchte gewöhnt. Er versuchte nicht, mich auszuhorchen. Es genügte ihm, einen an seiner Seite zu haben.
    Auf dem Rückweg kamen wir an der Schule vorbei, die ich als Knabe besucht hatte. Gegenüber der Schule stand eine Reihe schäbiger Mietskasernen, alle mit Läden ausgestattet, die so anziehend waren wie eine Reihe schlechter Zähne. In einer dieser Wohnungen war Tony Marella aufgewachsen. Aus irgendeinem Grunde erwartete mein

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