Nexus
hatte. Das Luftgewehr nicht zu vergessen. (Von dem Revolver wurde nichts gesagt. Lag er wohl noch in der Schublade bei den Messern und Gabeln? An jenem Abend versetzte uns unsere Mutter nicht schlecht in Schrecken, als sie nach dem Revolver griff. Glücklicherweise war er nicht geladen. Sie wußte das wahrscheinlich sogar. Trotzdem ...)
Nein, nichts hatte sich geändert. Ich war noch immer zwölf Jahre, damals war die Uhr stehengeblieben. Was sie auch später über mich zu hören bekamen, ich blieb immer dieser reizende kleine Junge, der sich eines Tages zu einem perfekten Maßschneider auswachsen würde. Was ich mir da mit dem Schreiben in den Kopf gesetzt hatte, war alles Unsinn . . . darüber würde ich früher oder später hinwegkommen. Und diese wunderliche neue Frau .. . nun ja, mit der Zeit würde auch die zu einem blassen Schatten werden. Schließlich würde ich wieder zur Vernunft kommen. Jeder macht mal dumme Streiche, aber das vergeht, früher oder später. Sie hatten keine Angst, daß ich mich wie der liebe alte Onkel Paul selbst umbringen würde. Nach einem Selbstmörder sah ich nicht aus. Übrigens war ich hell im Kopf. Im Grunde ein braver Junge, nicht viel dran auszusetzen. Ein bißchen wild und eigensinnig, aber sonst in Ordnung. Hat zuviel gelesen... zu viele nichtsnutzige Freunde gehabt. Sie würden sich bemühen, nicht den Namen zu erwähnen, aber bald würde die Frage kommen, das wußte ich, immer verstohlen, immer mit gesenkter Stimme. Augen rechts, Augen links - «Und wie geht's der Kleinen?» Das war meine Tochter. Ich hatte nicht die geringste Ahnung, ich wußte nicht einmal, ob sie noch am Leben war, aber ich antwortete ruhig und sachlich: «Oh, ausgezeichnet, ja.» — «Ja?» würde meine Mutter sagen: «Hast du Nachricht von ihnen?» Das ihnen schloß meine ehemalige Frau ein. «Indirekt», antwortete ich. «Ich höre ab und zu durch Stanley von innen.» - «Und wie geht's ihm , Stanley?» - «Sehr gut.»
Wie gern möchte ich mit ihnen von Johnny Paul sprechen! Aber das würden sie sehr sonderbar finden. Freilich, als ich Johnny Paul das letzte Mal sah, war ich sieben oder acht. Wahrhaftig! Aber sie ahnten nicht, besonders du ahntest nicht, liebe Mutter, daß ich sein Andenken all diese Jahre lebendig erhalten hatte. Ja, im Verlauf der Jahre tritt Johnny immer heller hervor. Manchmal — und das geht über euren Horizont hinaus - ist er in meinen Gedanken wie ein kleiner Gott. Einer der sehr wenigen, die ich kennengelernt habe. Ihr wißt wohl nicht mehr, daß Johnny Paul die weichste, sanfteste Stimme hatte, die einem Menschen gegeben sein kann. Ihr wißt nicht, daß ich, obwohl ich damals nur ein kleiner Köter war, durch seine Augen Geheimnisse sah, die sonst niemand mir enthüllte. Für euch war er nur der Sohn des Kohlenhändlers, ein schmutziger kleiner Italiener, der nicht besonders gut Englisch sprach, aber jedesmal höflich die Mütze abnahm, wenn ihr vorüberkamt. Wie konntet ihr euch je träumen lassen, daß solch ein Knirps für euren teuren Sohn ein Gott war? Habt ihr je gewußt, was durch den Kopf eures Sohnes ging? Euch waren weder die Bücher recht, die er las, noch die Spielkameraden, die er sich auswählte, noch die Mädchen, in die er sich verliebte, noch die Spiele, die er bevorzugte, noch das, was er werden wollte. Ihr wußtet es immer besser als er, nicht wahr? Aber ihr habt keinen zu starken Druck auf mich ausgeübt, ihr habt lieber so getan, als hörtet und sähet ihr nichts. Ich würde schon zur richtigen Zeit über diese Torheiten hinwegkommen. Aber das tat ich nicht. Mit jedem Jahr wurde es schlimmer mit mir. Ihr benahmt euch dann so, als sei die Uhr auf zwölf stehengeblieben. Ihr konntet euren Sohn, so wie er war, einfach nicht anerkennen. Ihr hattet ihn lieber so, wie er euch paßte - als Zwölfjährigen. Danach die Sintflut...
Und nächstes Jahr zu dieser selben vermaledeiten Zeit werden sie mich wahrscheinlich wieder fragen, ob ich noch schreibe, und ich werde ja sagen, aber ihr werdet das ignorieren oder meine Antwort als einen Tropfen Wein ansehen, der zufällig auf euer bestes Tischtuch gefallen ist. Ihr wollt nicht wissen, warum ich schreibe, auch würde euch das nicht interessieren, wenn ich es sagte. Ihr wollt mich auf dem Stuhl festnageln, damit ich eurem Scheißradio zuhöre. Ihr wollt mich an eurem elenden Geschwätz über Nachbarn und Verwandte teilnehmen lassen. Ihr würdet damit auch nicht aufhören, wenn ich unbesonnen oder frech genug wäre,
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