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Nexus

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Titel: Nexus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Henry Miller
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Vater immer, daß mich die Erwähnung von Tony Marellas Namen in Begeisterung versetzte. Er verfehlte dabei nie, mir mitzuteilen, welch neue Sprossen auf der Ruhmesleiter dieser Sohn eines Italieners wieder erklommen hatte. Tony hatte jetzt eine hohe Stellung bei der Stadtverwaltung. Er machte auch als Politiker Fortschritte und würde wahrscheinlich bald Kongreßmitglied werden. Ob ich nichts darüber gelesen hätte? Es könnte nicht zu meinem Schaden sein, dachte er, wenn ich Tony einmal aufsuchte .. . Man wisse nie, wozu so etwas führen könnte.
    Gegen Ende unseres Spazierganges kamen wir an dem Haus vorüber, das der Familie Gross gehörte. Auch die beiden Gross-Jungen, sagte mein Vater, machten sich gut. Einer sei beim Militär und bereits Hauptmann, der andere bei der Marine Geschwaderkommandant. Damals, während ich mir das Gerede meines Vaters anhörte, ließ ich mir nicht träumen, daß einer von ihnen eines Tages General werden würde. (Es war undenkbar, daß in dieser Gegend, in dieser Straße ein General zur Welt kommen könnte.)
    «Was ist nur aus dem verrückten Kerl geworden, der weiter oben in der Straße wohnt?» fragte ich. «Du weißt schon, dort, wo die Ställe sind.»
    «Ein Pferd hat ihm die Hand abgebissen, und er bekam Wundfieber.»
    «Du meinst, er ist tot?»
    «Schon lange. Sie sind alle tot, alle Brüder. Der eine wurde vom Blitz erschlagen, ein anderer glitt auf dem Eis aus und brach sich den Schädel. Ja, ja, und den dritten mußte man in die Zwangsjacke stecken. Er starb bald darauf an einem Blutsturz. Der Vater lebte am längsten. Er war blind, wie du wohl noch weißt. Zuletzt wurde er ein bißchen schwachsinnig, machte nur noch Mausefallen.»
    Warum, so fragte ich mich, hatte ich nie daran gedacht, in dieser Straße von Haus zu Haus zu gehen und eine Chronik über das Leben ihrer Bewohner zu schreiben? Was für ein Buch hätte das gegeben! Das Buch des Grauens . Dabei waren es gar keine ungewöhnlichen Schicksale. Alltägliche Tragödien, die es nie zu Schlagzeilen auf der ersten Seite der Zeitungen bringen. Maupassant wäre hier in seinem Element gewesen ...
    Als wir heimkamen, fanden wir alle hellwach in angeregter Unterhaltung. Mona und Stasia tranken Kaffee. Sie hatten wahrscheinlich welchen verlangt. Meine Mutter hätte nie daran gedacht, zwischen den Mahlzeiten Kaffee zu kochen. Kaffee gab es nur zum Frühstück, zu Kartenspielkränzchen und zum Kaffeeklatsch . Jedoch .. .
    «Na, wie war der Spaziergang?»
    «Sehr angenehm, Mutter. Wir sind durch den Friedhof gegangen.»
    «Sehr nett. Waren die Gräber in gutem Zustand?» Sie meinte das Familiengrab, besonders das Grab ihres Vaters.
    «Da ist für euch beide auch noch Platz», sagte sie. «Und für Lorette.»
    Ich warf einen Blick auf Stasia, um zu sehen, ob sie ihr Gesicht im Zaum hielt. Jetzt sprach Mona dazwischen. Sie machte eine höchst unpassende Bemerkung.
    «Er stirbt nie», sagte sie.
    Meine Mutter verzog das Gesicht, als hätte sie in eine saure Pflaume gebissen. Dann lächelte sie mitleidig, wobei sie zuerst Mona, dann mich anblickte. Ja, sie hätte beinahe laut aufgelacht, als sie antwortete: «Nur keine Sorge, er wird genauso dran glauben müssen wie wir alle. Schau ihn an, er ist schon fast kahl und ist erst in den Dreißigern. Er gibt nicht acht auf sich, und du auch nicht.» In ihren Augen stand jetzt wohlwollender Tadel.
    «Val ist ein Genie», erklärte Mona und wagte sich damit noch weiter vor. Sie wollte gerade richtig loslegen, um ihre Behauptung zu begründen, da brachte meine Mutter sie zum Schweigen.
    «Muß man ein Genie sein, um Geschichten zu schreiben?» fragte sie. Der Ton ihrer Worte verhieß nichts Gutes.
    «Nein», sagte Mona. «Aber Val wäre ein Genie, auch wenn er nicht schriebe.»
    «Tsch, tsch! Im Geldverdienen ist er sicher keins.»
    «Er soll nicht an Geld denken», antwortete Mona schnell. «Das laß nur meine Sorge sein.»
    «Während er daheim bleibt und kritzelt, wie?» Das Gift war jetzt im Fließen. «Und du, eine hübsche junge Frau wie du, mußt außer Haus gehen und eine Stelle annehmen. Die Zeiten haben sich geändert. Als ich ein kleines Mädchen war, saß mein Vater von früh bis spät auf der Pritsche. Er verdiente das Geld. Er brauchte keine Eingebung . . . kein Genie. Er hatte genug zu tun, uns Kinder lebendig und froh zu erhalten. Wir hatten keine Mutter . . . Sie war im Irrenhaus. Aber wir hatten ihn - und wir liebten ihn sehr. Er war uns Vater und Mutter. Wir litten nie

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