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Nexus

Nexus

Titel: Nexus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Henry Miller
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Dann knöpfte er sein Hemd auf. Als ich seine Brust erblickte, fiel ich beinahe in Ohnmacht.
    «Soviel war nötig, mir die Augen zu öffnen», sagte er. «Gehen Sie heim und bringen Sie Ihre Gedanken in Ordnung. Gehen Sie, bevor ich Sie niederschlage!»
    Ich ging sofort auf die Tür zu. Ich brauchte meinen ganzen Mut, um keinen Laufmarsch anzutreten. Jemand kam von der Straße herein. Jetzt würde er mich wohl nicht mehr überfallen - oder doch? Ich ging in demselben Tempo weiter, beschleunigte aber meine Schritte, als ich zur Tür kam.
    Huh! Draußen ließ ich meine Aktentasche fallen und zündete mir eine Zigarette an. Aus allen Poren brach mir der Schweiß. Ich überlegte, was ich tun sollte. Es war feige, mit eingeklemmtem Schwanz davonzulaufen, und zurückzukehren war Selbstmord. Ob er nun Veteran war oder nicht, verrückt oder nicht, er spaßte nicht. Das Tolle aber war, daß er mich erkannt hatte . Das machte mich so siedend heiß.
    Ich machte mich aus dem Staub und führte auf der Flucht Selbstgespräche mit mir. Ja, er hatte mich bis auf den Grund erkannt: als Zeitverschwender, Schwindler, Schmuser und Strolch. Noch niemand hatte mich so erniedrigt. Am liebsten hätte ich Mr. Larrabee brieflich mitgeteilt, daß ich ein falscher, unehrlicher, wertloser Geselle sei, wie sehr meine Worte ihn auch beeindruckt haben mochten. Ich war mir selbst so zuwider, daß ich am ganzen Körper einen Hautausschlag bekam. Wäre ein Wurm vor mir aufgetaucht und hätte Jims Worte wiederholt, würde ich beschämt den Kopf gebeugt und gesagt haben: «Sie haben absolut recht, Herr Wurm. Lassen Sie mich neben Ihnen herkriechen und mich in der Erde vergraben.»
    In Borough Hall stürzte ich eine Tasse Kaffee hinunter und verschlang ein belegtes Brötchen. Dann ging ich instinktiv zum «Star», einem altmodischen Variete, das einst bessere Tage gesehen hatte. Die Vorstellung hatte schon begonnen, aber das machte nichts. Weder an Witzen noch an Mädchenbeinen gab es etwas Neues. Beim Eintritt kam mir die Erinnerung an meinen ersten Besuch in diesem Theater. Mein alter Freund AI Burger und dessen Busenfreund Frank Schofield hatten mich eingeladen. Wir müssen damals neunzehn oder zwanzig Jahre alt gewesen sein. Woran ich mich besonders erinnerte, war die Wärme der Freundschaft, die dieser Frank Schofield ausstrahlte. Ich war ihm erst zwei- oder dreimal vorher begegnet. Für Frank war ich etwas ganz Besonderes. Er hörte mich gern reden, hing an jedem Wort, das ich äußerte. Ja, alles, was ich sagte, faszinierte ihn aus irgendeinem Grunde. Frank selbst war einer der gewöhnlichsten Erdenbürger, aber er floß von Liebe über. Er hatte eine Mammutgestalt, wog damals fast drei Zentner, trank wie ein Loch und hatte immer eine Zigarre im Munde. Er lachte bei jeder Gelegenheit, und dann wackelte ihm der Bauch wie Sülze. «Warum kommst du nicht zu uns und wohnst bei uns?» schlug er oft vor. «Wir sorgen für dich. Es tut mir gut, wenn ich dich nur sehe.» Einfache, aber ehrliche und aufrichtige Worte. Nicht einer meiner damaligen Kameraden war so einfach und hausbacken. In seine Seele hatte sich noch kein Wurm eingeschlichen. Er war unschuldig, friedlich und über Gebühr freigebig.
    Aber warum hatte er mich so gern? So fragte ich mich, als ich mich zu meinem Parterresitz tastete. Schnell ging ich die Liste meiner Busenfreunde durch. Ich hätte gern gewußt, was wohl jeder einzelne von mir gedacht hatte. Dabei erinnerte ich mich auch an einen Schulkameraden, Lester Faber, dessen Lippen sich jedesmal, wenn wir uns sahen - und das war jeden Tag -, zu einem spöttischen Lächeln kräuselten. Niemand von uns, auch die Lehrer nicht, mochte ihn leiden. Er war sauer geboren. Zum Teufel mit ihm! dachte ich. Trotzdem hätte ich gern gewußt, womit er jetzt seinen Lebensunterhalt verdiente. Und was war aus Lester Prink geworden? Plötzlich sah ich die ganze Klasse vor mir, so wie wir auf dem Foto aussahen, das am Entlassungstag von uns aufgenommen wurde. Alle standen mir vor Augen, ja, ich wußte sogar noch ihre Namen, ihre Größe, ihr Gewicht und ihren Ruf, ihre Wohnung, Sprechweise und so weiter, kurz, ich erinnerte mich an alles. Sonderbar, daß ich nie einem von ihnen über den Weg lief...
    Die Vorstellung war furchtbar. Ich schlief beinahe mittendrin ein. Aber auf meinem Sitz war es warm und gemütlich. Übrigens hatte ich keine Eile, irgendwohin zu kommen. Ich mußte sieben oder acht, ja vielleicht neun Stunden totschlagen, bevor die beiden

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