Nexus
sie kennenlernte. Aus einem mir unerklärlichen Grunde ging ich chronologisch vor und legte mühelos die lange Reihenfolge der Ereignisse nieder, die den Zwischenraum zwischen jenem verhängnisvollen Abend und der Gegenwart füllten. Ich tippte Seite auf Seite, und immer hatte ich noch mehr zu berichten.
Als ich Hunger verspürte, hörte ich auf und ging ins Village , um etwas zu essen. Dann kehrte ich ins Büro zurück und setzte mich wieder an die Maschine. Beim Schreiben lachte und weinte ich. Obschon ich nur Notizen machte, schien es mir, als würde mir das Buch unter den Händen fertig. Ich erlebte die ganze Tragödie noch einmal, Schritt für Schritt, Tag für Tag.
Mitternacht war schon lange vorbei, als ich aufhörte. Völlig erschöpft legte ich mich auf den Boden und schlief ein. Ich erwachte früh am Tage und ging wieder ins Village , um zu frühstücken. Dann bummelte ich zurück, um meine Tagesarbeit wiederaufzunehmen.
Im Laufe des Tages las ich noch einmal durch, was ich während der Nacht niedergeschrieben hatte. Ich brauchte nur wenige Zusätze zu machen. Wie waren mir nur die tausendundeines Einzelheiten eingefallen, die ich jetzt vor mir sah? Wenn ich diese Notizen im Telegrammstil zu einem Buch umformte, würde es dann nicht, wenn ich dem Thema gerecht werden wollte, auf mehrere Bände anschwellen? Schon der Gedanke an die Unermeßlichkeit dieser Aufgabe machte mich stutzig. Wann würde ich je den Mut aufbringen, ein Werk von solchem Umfang in Angriff zu nehmen?
So in Nachsinnen verloren, erschütterte mich ein schrecklicher Gedanke: mit unserer Liebe war es aus. Eine andere Bedeutung konnte der Plan zu einem solchen Buch nicht haben. Ich wollte jedoch diese Schlußfolgerung nicht anerkennen. Ich machte mir vor, meine wahre Absicht wäre nur — «nur»! -, die Geschichte meines Mißgeschicks zu erzählen. Aber ist es möglich, von seinen Leiden zu berichten, während man noch leidet? Abaelard hatte es fertiggebracht. Nun schlich sich ein sentimentaler Gedanke ein. Ich wollte das Buch für sie — an sie -schreiben, und wenn sie es läse, würde sie verstehen, ihre Augen würden sich öffnen, sie würde mir helfen, die Vergangenheit zu begraben, wir würden ein neues Leben beginnen, ein gemeinsames Leben — in wirklicher Gemeinsamkeit.
Wie naiv! Als ob das Herz einer Frau, wenn es sich einmal geschlossen hat, sich je wieder öffnen könnte!
Ich erstickte diese innere Stimme, diese Einflüsterungen, die nur vom Teufel kommen konnten. Mich hungerte mehr denn je nach ihrer Liebe, ich war verzweifelter als je zuvor. Ich erinnerte mich dann an die Nacht, in der ich vor Jahren am Küchentisch gesessen war (während meine Frau oben im Bett lag), und ich ihr in einem verzweifelten selbstmörderischen Appell mein Herz ausgeschüttet hatte. Der Brief hatte seine Wirkung getan. Ich hatte Zugang zu ihrem Herzen gefunden. Warum sollte ein Buch nicht eine noch größere Wirkung haben? Besonders ein Buch, in dem ich mein Herz bloßlegte? Ich dachte an den Brief, den eine von Hamsuns Personen an seine Viktoria geschrieben hatte. «Gott blickte ihm über die Schulter», heißt es da. Ich dachte an die Briefe, die zwischen Abaelard und Heloise gewechselt wurden und die heute noch so frisch sind wie damals. Oh, die Kraft des geschriebenen Wortes!
Am Abend, während meine Leute die Zeitungen lasen, schrieb ich ihr einen Brief, der das Herz eines Geiers erweicht hätte. (Ich schrieb ihn an dem kleinen Tisch, an dem ich als Junge hätte sitzen sollen.) Ich entwickelte den Plan des Buches und teilte ihr mit, wie ich ihn in einem Zug skizziert hatte. Ich sagte ihr, daß das Buch für sie bestimmt sei, daß sie selbst das Buch wäre. Ich schwor ihr, ich würde auf sie warten, und wenn es tausend Jahre dauerte.
Es war ein kolossaler Brief, und als ich ihn fertig hatte, kam mir zum Bewußtsein, daß ich ihn nicht abschicken konnte, weil sie mir keine Adresse angegeben hatte. Da packte mich die Wut. Es war, als hätte sie mir die Zunge herausgeschnitten. Wie konnte sie mir einen so schäbigen Streich spielen! Wo sie auch war, in wessen Armen sie auch lag, fühlte sie nicht, daß ich alles daransetzte, mit ihr in Verbindung zu bleiben? Trotz der Verwünschungen, mit denen ich sie überhäufte, sagte mein Herz: «Ich liebe dich, ich liebe dich, ich liebe dich ...» Als ich ins Bett kroch, stöhnte ich auf, weil ich immer noch dieses idiotische Sätzchen wiederholte. Ich stöhnte wie ein verwundeter Grenadier.
11
Am
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