Nibelungen 04 - Das Nachtvolk
von Niort. Einst war er nur der dritte von vier Brüdern, und damit es keine Streitigkeiten um die Erbfolge gab, hatte man ihn und seinen jüngeren Bruder in Klöster gesteckt, während die beiden älteren Brüder auf die Herrschaft vorbereitet wurden. Jehan war ein geistlicher Fürst geworden, so wie es seiner edlen Geburt anstand, doch hatte er sich stets mehr zu den Turnierplätzen der Adelssitze als zu den Bibliotheken der Klöster hingezogen gefühlt. Seine beiden ält e ren Brüder waren gestorben, bevor sie einen Nachkommen zeugen konnten, und daher hatte er den Grafentitel angeno m men, ohne deshalb auf seine Bischofswürde verzichten zu mü s sen. So war er zu einem der mächtigsten Männer Aquitaniens geworden.
Jehan trug ein prächtiges Gewand aus Gold und Purpur, dazu den breitkrempigen Bischofshut, als er vor seinen König trat. Wie stets hatte er ein Schwert umgegürtet, und statt leinener Unterkleider, so wie sie einem Geistlichen anstanden, hatte er ein Kettenhemd angelegt. Das Lärmen in der großen Festhalle verstummte fast augenblicklich, als er eintrat und mit festem Schritt auf die erhöhte Tafel des Königs zuhielt. Dicht hinter ihm folgte Golo, der den Schild Volkers und dessen blutbes u delten Waffenrock auf den Armen trug. Der Knecht war in die Gewänder seines Herren gekleidet und so prächtig herausg e putzt, als sei er selbst ein Mann von Stand. Vier Krieger in roten Waffenröcken bildeten ihre Eskorte.
»Mein König, man verhöhnt Euch«, rief Jehan mit donnernder Stimme. Alle Blicke richteten sich auf den Bischof. Es war jetzt so still, daß man das Knistern der Holzscheite in dem großen Kamin am Ende des Saales hören konnte. »In den Sümpfen bei Marans haben sich Rebellen gegen Eure Herrschaft empört. Sie haben die Burg des jungen Barons Rollo niedergebrannt und ihn zusammen mit all seinen Bewaffneten hingerichtet. Sie schänden die Kirchen entlang des Sumpfes und zwingen die Bauern dazu, wie in alten Zeiten zu Bäumen und Waldgeistern zu beten. Wer sich ihnen widersetzt, dem schlagen sie den Kopf ab und spießen ihn zu Ehren der blutrünstigen Heidengöttin Morrigan auf einen Pfahl. Inmitten der Sümpfe herrscht ein Weib, das sich den Titel einer Königin gegeben hat, und die Bauern dort bringen ihr mehr Ehrfurcht entgegen als Euch, mein Herr.«
Ein Mann mit aschblondem Haar und kurzgeschorenem Bart erhob sich. Er trug einen schmalen Goldreif über der Stirn. Se i ne Augen funkelten spöttisch. »Und woher wißt Ihr all dies, Bischof Jehan? Wenn ich mich recht erinnere, liegt Saintes ein gutes Stück von den Sümpfen entfernt. Und warum wendet Ihr Euch an mich? In Gottes Namen habt Ihr meine Erlaubnis, ein paar Rebellen zu jagen, wenn es Euch Freude bereitet, und sie an ihren heiligen Bäumen aufzuknüpfen.«
»Mein Herr, Ihr verkennt die Lage. Das sind nicht nur ein paar mit Knüppeln bewaffnete Leibeigene, die sich dort erh o ben haben. Sie haben eine Burg gebrandschatzt, die von mehr als zwanzig erfahrenen Kriegern verteidigt wurde. Aber das ist nicht genug. Erinnert Ihr Euch daran, daß der junge Baron Ro l lo die Nichte des Burgundenkönigs Gunther geheiratet hatte? Dieses Weib wurde als Sklavin in die Sümpfe verschleppt. Gu n ther hat bereits einen seiner besten Ritter geschickt, um mit den Rebellen über ihre Freilassung zu verhandeln.«
Golo konnte beobachten, wie sich die Hände des Königs zu Fäusten ballten. »Der Burgunde hat einen Ritter zu den Rebe l len geschickt und nicht an meinen Hof! Glaubt er, ich sei nicht mehr Herr in meinem Königreich?«
»Es kommt noch schlimmer, mein König. Jener Edle, Volker von Alzey geheißen, wurde von den Rebellen heimtückisch e r mordet. Nur sein Gefährte, Golo von Zeilichtheim, konnte dem feigen Anschlag entgehen. Er focht wie ein Löwe, um seinen sterbenden Herrn aus der Gewalt der Sumpfleute zu befreien. Tretet vor, Golo, und legt dem König die Beweise für das Schicksal Eures Herrn vor.«
Golo wünschte, er hätte niemals sein Dorf verlassen. Mit we i chen Knien trat er vor die Tafel des Königs und legte den ze r schlagenen Schild und den blutbesudelten Waffenrock Volkers nieder. Der Bischof hatte ihm genau eingeschärft, was er nun zu sagen hatte. Golo begriff zwar nicht, worauf die Intrige Jehans abzielte, doch war ihm klar, daß es ihn seinen Kopf kosten würde, wenn er sich nicht fügte. »Ich fordere Rache für meinen toten Freund und für die Nichte meines Königs, die verschleppt wurde. Mein Herr … « Golo
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