Nibelungen 05 - Das Runenschwert
linken Unterschenkel. Eine weitere Kreuzotter hatte sich in seinem Stiefel verbissen und versuchte vergeblich, das feste Leder mit ihren langen Giftzähnen zu durchdringen.
Siegfried holte mit der Fackel aus und versengte den schwarzgezackten Leib. Es stank nach verbranntem Fleisch, doch die Otter schaffte es, die Flucht zu ergreifen. Mit einer weitausholenden Bewegung des rechten Arms ließ er die Fackelflamme über den Boden streichen. Gleichzeitig drehte er sich, um mit der Fackel einen Kreis zu ziehen. Plötzlich erkannte Siegfried, daß er von Schlangen umgeben war. Von übermäßig großen, giftigen Kreuzottern!
Als er die Fackel wieder hob, sah er einen Ausweg. Zur Linken verlief ein schmaler Weg um eine Barriere aus Felsnadeln herum. Wenn Siegfried Glück hatte, führte der Gang wieder auf den Hauptweg. Also lief er schnell nach links, bevor die Ottern einen neuen Angriff wagten.
Er glaubte sich schon in Sicherheit, als der Boden unter seinen Füßen nachgab; ein brüchiges Loch im ansonsten festen Fels.
Siegfried versuchte vergeblich, sich durch einen raschen Sprung zu retten. Er stürzte in ein Loch, das so tief war, daß nur noch sein Kopf herausschaute.
In dem Bestreben, sich festzuhalten, hatte er Fackel und Spieß fallenlassen. Sie lagen vor ihm, so dicht, daß er sie mit einem Griff hätte erreichen können – wären seine Arme nicht eingeklemmt gewesen.
So steckte er in dem Loch und sah mit schreckgeweiteten Augen, wie die Schlangen aus dem Dunkel kamen. In aller Ruhe. Sie schienen es nicht eilig zu haben, ihn zu töten. Hilflos mußte Siegfried mit ansehen, wie sie auf ihn zukrochen…
Amke wußte nicht, wie lange sie auf das finstere Loch gestarrt hatte. Längst waren Siegfrieds Schritte verklungen; es war auch nichts mehr vom tanzenden Schein seiner Fackel zu sehen.
Sie fühlte sich einsam und müde. Sie ging zu Graufell, dessen Zügel Siegfried locker um einen Heidelbeerstrauch geschlungen hatte, so daß der prächtige Hengst ausreichend Platz zum Grasen fand. Außerdem konnte er die saftigen schwarzblauen Beeren pflücken, die zwischen den rötlich-grünen Blüten hervorstachen. Aber seltsam, obwohl er zwei Menschen getragen hatte, schien er nicht hungrig zu sein. Unruhig pendelte sein Kopf zwischen dem Schlangenmaul und dem Waldrand hin und her.
Eine Bewegung, die Amke an den großen Bären erinnerte. Und an Siegfrieds mutiges Eingreifen. Als er plötzlich auf die Lichtung galoppierte, war alle Angst um ihr Leben verflogen; sie hatte nur noch um den jungen Xantener gebangt, der ihr in den vergangenen Tagen so sehr ans Herz gewachsen war.
Doch durfte das sein? Durfte sie ihr Herz an den Sohn des Mannes vergeben, der ihre Mutter getötet hatte? Gewiß, ihr Vater war nach Xanten gekommen, um endlich Frieden zu schließen. Aber das bedeutete nicht Versöhnung, schon gar nicht Vergebung. Amke wußte, daß König Hariolf tief in seinem Herzen einen großen Haß auf das Xantener Königshaus empfand. Nicht anders war es mit ihrem Bruder Harko und Markgraf Onno, der im Krieg gegen die Niederlande nicht nur seine Familie verloren hatte, sondern dessen Gesicht auch entstellt worden war.
Amke streichelte den Hengst und legte ihre Wange auf das samtene Fell. Sie genoß die Wärme, die sie spürte. Seit dem Tod der Mutter war ihr nur noch wenig Wärme zuteil geworden.
Ihre sanften Berührungen beruhigten Graufell nicht. Er zerrte so stark an den Zügeln, daß Beeren und Blüten abrissen und zu Boden fielen. Mit gespitzten Ohren blickte er unverwandt zum Waldrand. Amke war alarmiert. Sie wußte, daß Pferde Gefahren wahrnehmen konnten, die ein Mensch weder sah noch hörte. Dann spürte sie es selbst, ganz nah, im Wald…
Sie versuchte, ihre Erregung nicht zu zeigen, und streichelte weiter Siegfrieds Pferd. Aber heimlich glitten ihre Augen über Gras und Strauchwerk zu den Eichen, Buchen, Kiefern und Tannen, die vereinzelt in die Lichtung ragten. Als sie den grauen Schemen bemerkte, verlor sie jede Zurückhaltung und starrte offen zu der Gruppe dunkler Tannen. Doch die Gestalt verschwand, ehe Amke sie noch richtig wahrnehmen konnte.
Hatte der Bär sie verfolgt?
Amke versuchte sich mit dem Gedanken zu beruhigen, daß es vielleicht Goldflimmer war, die den Weg zu ihrer Herrin gefunden hatte. Aber warum war die Stute dann nicht auf die Lichtung gekommen? Nein, es mußte ein anderes Wesen sein, das sie beobachtet hatte.
Amke fröstelte plötzlich, trotz der Sonne am wolkenlosen Himmel. Sie
Weitere Kostenlose Bücher