Nibelungengold 02 - Das Drachenlied
umgeben von einer hohen, zinnenbewehrten Mauer.
Das Merkwürdigste war die Menschenschlange, die sich schweigend vom Waldrand bis zum offenen Tor der Felsenfestung erstreckte. Unablässig reichten die Männer und Frauen etwas von einem zum anderen – Eimer, wie es schien. Alberichs erster Gedanke war, daß es innerhalb der Festung brannte, und Löschwasser aus dem Tal zum Turm getragen wurde. Doch der rote Schein, der um die Mauern lag, stammte allein von der untergehenden Sonne. Von einem Feuer war weit und breit nichts zu sehen.
Noch eine weitere Beobachtung wollte nicht zum Bild einer Löschkette passen: Die Menschenschlange wurde von berittenen Kriegern bewacht, die schwerbewaffnet und mit klatschenden Peitschen Obacht gaben, daß nirgends eine Lücke entstand. Mindestens drei Dutzend Krieger patrouillierten an der Kette entlang den Hang auf und ab. Immer wieder ließen sie die Lederriemen auf ihre emsigen Opfer herabknallen.
»Deshalb bewachen sie nur die eine Seite der Felsen«, erkannte Mütterchen erschrocken. »Sie geben acht, daß keiner ihrer Sklaven über den Felskamm entkommt. Wanderer aber, die wie wir von der anderen Seite kommen, werden abgefangen und versklavt.«
»Dann war der Mann, den wir fanden, sicher einer, der ihnen entkam«, flüsterte Alberich.
»Er muß einem der Krieger das Horn gestohlen haben.«
Löwenzahn löste seinen Blick von den Arbeitern. »Darum ist der Fluß so leer. Die Krieger versklaven die Flößer.« Anders als Alberich und Mütterchen wirkte der Riese keineswegs entsetzt.
Vielleicht liegt es am Hunnenblut in Löwenzahns Adern, dachte Alberich geringschätzig. Für seinesgleichen waren Sklaven nichts Ungewöhnliches. Dann aber fiel ihm sein eigenes Volk ein, das in den Mienen und Schmieden des Hohlen Berges den Hort geschaffen hatte. War nicht er selbst ein Kind der Sklaverei? Schlimmer noch: Er ergab sich freiwillig seiner Rolle als letzter Sklave der Nibelungen. Treuer Horthüter? Von wegen. Er fügte sich ohne Peitsche in sein Schicksal, kämpfte gar darum, es aufrechtzuerhalten.
Vielleicht hätte er in diesem Moment den Sinn seiner Reise neu überdacht, vielleicht wäre er gar zu dem Schluß gekommen, daß dies der rechte Zeitpunkt war, um kehrtzumachen – wäre nicht plötzlich etwas geschehen, das ihn aus seinen Grübeleien riß.
Hinter ihnen sagte eine Stimme: »Rührt euch nicht von der Stelle!«
Sie wirbelten trotzdem herum – und blickten geradewegs auf acht Drachenkrieger, die Schwerter und Armbrüste auf sie gerichtet hatten. Einer hatte die Zügel des unglücklichen Ponys ergriffen und zog es grob hinter die Reihe der Kämpfer. Die Drachenschädel auf ihren Wappen unterschieden sich deutlich in der Vollendung ihrer Ausführung. Es sah aus, als hätte sie jeder eigenhändig nach einer gemeinsamen Vorlage gezeichnet. Daß kein echter Künstler mit der Herstellung beauftragt worden war, war ein Hinweis darauf, daß das Wappen in aller Eile entstanden war, wahrscheinlich erst nach dem Tod des Untiers.
Löwenzahn stieß einen zornigen Schrei aus und wollte schon den Bihänder schwingen, aber Mütterchen hielt ihn zurück. »Laß ab, Freund, sie sind uns überlegen.«
Die acht Männer trugen Helme, durch deren Sehschlitze nur ihre Augenpartie zu erkennen war. Einer besaß einen schwarzen Helmbusch. Er schien der Anführer der Gruppe zu sein, denn er zeigte auf Alberich und fragte: »Wo habt ihr das her?«
Die Anrede »das« machte Alberich außerordentlich wütend, bis er begriff, daß nicht er, sondern das Horn vor seiner Brust gemeint war. Er ergriff es langsam mit beiden Händen und fragte scheinheilig: »Das hier?«
Der Drachenkrieger nickte. Dabei klirrte sein Helmrand auf den Stahlkragen des Brustpanzers. »Woher hast du es?« fragte er noch einmal. Offenbar nahm er an, daß die drei die Wirkung des Hornes nicht kannten, denn er verlangte nicht, daß sie es herausgaben. Noch nicht.
Alberichs Gedanken überschlugen sich. Er wußte, er gefährdete seine Freunde, aber welche Wahl blieb ihm schon?
Blitzschnell riß er das Horn an die Lippen und stieß mit aller Kraft hinein.
Die Wirkung war spektakulär.
Kaum ertönte der Klang des Hornes, da ließen die Krieger ihre Waffen fallen und schlugen die Hände vor die Ohren – die Schwierigkeit war, daß sie Helme trugen. Die Männer wälzten sich schreiend am Boden, klammerten die Finger um die Helme, unfähig, sie herabzureißen.
Mütterchen und Löwenzahn erging es nicht besser. Auch sie lagen im
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