Nibelungenmord
der Stadt treffen und von dort aus gemeinsam etwas suchen? Wo ist denn ein guter Treffpunkt?«
»Ich weiß nicht«, sagte Edith schwach. Sie war müde, und es war regnerisch draußen. Jan war eigentlich immer unpünktlich, und bei dem Gedanken, im Dunkeln auf ihn zu warten, in der einen Hand den Regenschirm und in der anderen die Handtasche, die ihr so leicht jemand entreißen konnte …
»Pass auf«, sagte Jan kurz entschlossen. »Ich bringe uns einfach etwas mit, und dann machen wir es uns gemütlich.«
Edith war erleichtert, obwohl auch der Gedanke reizvoll gewesen war, von ihrem gutgekleideten Enkel zum Essen ausgeführt zu werden. Ihr verstorbener Mann, Gott hab ihn selig, hatte niemals so schmuck ausgesehen.
Vielleicht ein anderes Mal. Jetzt, da Jan doch in der Nähe bleiben würde …
Sie hatte sich Mühe gegeben, eine frische, gestärkte Decke aufgelegt, die Kristallgläser poliert, Kerzen angezündet und gewartet. Und irgendwann nach acht war Jan erschienen, hatte erfreut den schönen Tisch gemustert und seine Plastiktüten daraufgestellt. Immerhin hatte er Wein besorgt. Zwei Flaschen! Wer sollte die trinken?
Ich darf nicht spießig sein, dachte Edith und tippte entschlossen eine Fritte in die glitschige Mayonnaise. Es kostete sie Überwindung, auf die Gabel zu verzichten, aber Jan machte es genauso.
Er hörte aufmerksam zu, als Edith ihm von Hertas Klatsch über die Affäre von Michael Sippmeyer berichtete.
»Es war komisch«, sagte er nachdenklich. »Der Mann schlotterte vor Angst, und ich könnte schwören, dass er Dreck am Stecken hat. Aber wenn er was mit dem Verschwinden seiner Frau zu tun hat, hätte er sich doch bestimmt eine plausible Geschichte zurechtgelegt.«
»Cecilia Thomas war bei mir im Kirchenchor«, bemerkte Edith.
»Wirklich? Sie hat behauptet, im Dunkeln jemanden erkannt zu haben. Die Künstlerin, die diese Drachenbilder malt.«
»Und?«
»Die Künstlerin behauptet, sie habe den Abend zu Hause verbracht, ihr Nachbar bestätigt das. Ich habe mir danach Cecilia Thomas noch einmal vorgeknöpft, aber sie blieb dabei. Sie war ganz empört, dass ich ihre Aussage angezweifelt habe.«
Edith betrachtete nachdenklich die erkalteten Fritten auf ihrem hübschen Spode-Teller. Ob Cecilia sie noch kannte? Was, wenn sie ihr morgen einen Besuch abstattete?
»Es ist ja ein komischer Zufall, dass die Leiche in einer Drachenhöhle gefunden wurde und die Verdächtige ausgerechnet Drachenbilder malt.«
»Ist es nicht. Immerhin leben wir hier am Fuße des Drachenfelsens. Hier wimmelt es nur so von Drachen. Es gibt sogar einen Drachengrill.« Sie wies auf das fettige Papier, in dem das Abendessen eingewickelt gewesen war.
»Aber ein Drachenmord? Warum hat jemand die Frau extra in dieses abgeschiedene Tal gelockt? So wie sie gekleidet war, ist sie dort nicht einfach mal vorbeispaziert, sie hatte etwas anderes vor als eine Wanderung, das steht fest.«
»Vielleicht wollte ihr jemand etwas zeigen?«
»Es muss schon etwas Außergewöhnliches gewesen sein, dass sie deswegen in ihren schicken Klamotten den schlammigen Hang zur Höhle hochgeklettert ist.«
»Du warst früher ganz wild auf diese Höhlen«, lächelte Edith.
»Ich kann mich dunkel erinnern. Kinder kann man mit den Drachengeschichten locken. Aber Erwachsene?« Jan hob erneut die Weinflasche, und Edith legte erschrocken die Hand auf ihr Glas.
»Nicht doch, Jan, ich habe schon ein ganzes Glas getrunken.«
»Lass mich nicht allein trinken! Ein halbes noch, ja?«
»Ein halbes, in Ordnung.« Sie sah zu, wie der rote Wein in ihr Glas gluckerte. Er schmeckte herb, anders als der Rheinwein, den sie sonst trank.
»Darf ich dich was fragen, Edith?«
»Aber sicher.«
»Was ist das eigentlich mit dir und Henny?«
Er nannte seine Mutter beim Vornamen, so wie jetzt auch sie, und Edith fragte sich, ob das richtig war. Sollte ein Junge nicht wissen, wer seine Mutter und wer seine Großmutter war? Auch erwachsene Jungen brauchten eine Mutter. Selbst wenn sie beinahe Ehemänner waren. Ehemänner hätten werden können, besser gesagt. Aber sie sollte den schönen Abend nicht mit Fragen nach Nicoletta und der geplatzten Hochzeit verderben. Dann schon eher mit Gesprächen über Henny.
Edith seufzte leise.
»Sie will das Haus. Sie hat sich in den Kopf gesetzt, es gründlich zu renovieren, das hat irgendetwas mit Steuern zu tun, die sie in Deutschland noch zahlen muss. Sie will, dass ich ihr das Haus überschreibe. Und damit ich ihr nicht im Weg
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