Nibelungenmord
hielten sie einen Plausch am Zaun, wenn das Wetter schön war und Romina im Gemüsegarten arbeitete. In den Erntemonaten hatte sie ihm manchmal eine Schüssel Bohnen oder Tomaten vorbeigebracht.
Ein einsamer Mann. Kein Wunder, wenn dieser jeden willkommen hieß, der etwas von ihm wissen wollte, und möglicherweise einen Kaffee mit ihm trank, selbst dann, wenn es Polizeibeamte waren. Romina konnte ihm nicht böse sein. Die Frage war nur, was der nette Herr Kornbichl erzählt hatte.
Es machte eigentlich keinen Unterschied. Entscheidend war nicht, was ihr Nachbar der Polizei erzählte, sondern was Michael aussagte. Um Michael ging es schließlich, er war der besorgte Ehemann, auch wenn Romina nicht genau einschätzen konnte, wie viel von seiner Rolle nur gespielt war. Vielleicht befreite ihn das plötzliche Verschwinden seiner Frau ja von seinen Sorgen? Was wog schwerer, die neuerworbene Freiheit oder die Gefahr, dass die Polizei in seinem Leben herumwühlte und seine Lebenslüge ans Licht brachte?
Wahrscheinlich Letzteres. Wie eigenartig, dass Michael nicht verstand, wie dumm diese Furcht war. Es gab kaum eine billigere, profanere Lebenslüge als ein Verhältnis, von dem die Nachbarn nichts wissen sollten. Jeder Vorabendserie wäre dieses Motiv zu dünn, aber Michael beharrte darauf.
Mit der Tasse heißen Ingwertee in der Hand stieg Romina die Treppe hinauf und schlüpfte mitsamt Pyjama in warme Sachen, eine Jogginghose, einen Strickpullover, ein altes Oberhemd zum Schutz vor Farbspritzern. Sie würde erst duschen und sich etwas Richtiges anziehen, wenn sie ihr Tagespensum erledigt hatte.
Als sie ins Atelier trat, erschrak sie erneut über die Kälte. Sie hatte so viele Oberlichter in die alte Scheune einsetzen lassen, wie der Architekt beziehungsweise das Bauamt zugelassen hatte. Es hatte sich gelohnt, auch wenn es teuer gewesen war. Bei der Dämmung hatte sie dann sparen müssen. Zum Glück war da der altersschwache Heizlüfter.
Während er warm lief, betrachtete Romina die Arbeiten der letzten Woche. Die Skizzen zu Kriemhilds und Brünhilds erstem Wiedersehen waren gut geworden. Man sah den energischen Strichen an, dass die beiden Frauen etwas verband. Ein Mann, natürlich. Siegfried, mit dem beide das Bett geteilt hatten. Viel Böses würde daraus erwachsen, viel Böses … Stoff für viele Bilder. Es war komisch, aber die bösen Stoffe boten Künstlern am meisten.
Kriemhild.
Niemand verstand, dass es Kriemhild gar nicht um die Ehre ihres Mannes ging, ebenso wenig wie ihrer Konkurrentin. Es ging um etwas ganz anderes. Seit kurzem wusste Romina auch, worum. Sie wusste plötzlich viel über die Frauen des Nibelungenlieds.
Es lag an den Spaziergängen. Das Siebengebirge war durchtränkt mit den Sagen und Mythen, ganz gleich, wie sehr sich die Fachleute streiten mochten, wo Siegfrieds Kampf gegen den Drachen tatsächlich stattgefunden hatte. Die Landschaft passte. Sie vibrierte förmlich vom Echo längst vergangener Schlachten, heroischer Taten, höfischer Ränkespiele. Konnte man sich Kriemhild, die verwöhnte Tochter, an einen besseren Ort denken als die sanften Hügel des alten Mühlentals, das jeden März von einer Flut zarter weißer Anemonen überrascht wurde? Wo sonst sollten sich Drachen und die zwergenhaften Hüter des Nibelungenschatzes verbergen, wenn nicht in den zahllosen Höhlen, die den Drachenfels durchzogen?
Kriemhild.
Romina schloss die Augen. Sie musste sich auf Kriemhild konzentrieren. Sie musste jeden Gedanken an die Polizei aus ihrem Kopf verbannen, wenn sie weiterkommen wollte. Ein Bild von Margit trieb durch ihre Gedanken wie eine Leiche durch einen See. Ja, das war gut. Romina spürte, wie die Assoziationen sie langsam mit sich fortrissen. Margit im See, die blonden Haare schwer und dunkel vor Nässe. Alle Anspannung war aus ihrem Gesicht verschwunden, die Schminke abgewaschen, ihr Mund, der so viele böse Worte ausstoßen konnte, weiß und kraftlos.
Romina öffnete die Augen. Die grundierte Leinwand gähnte sie an, weiß und nackt.
Kriemhild. Was war mit Kriemhild? Romina tastete in ihrem Inneren nach ihr, nach dem, was sie hatte malen wollen. Sie tastete auch nach Brünhild. Sie waren fort, beide.
Nichts. In ihrem Kopf war nichts, womit sie die weiße Fläche füllen konnte.
Gar nichts.
Und das war schlimm, tausendmal schlimmer als die ganzen Frauenleichen, die gedachten wie die echten.
*
Mittlerweile hätte Jan den Weg, der bald sein Heimweg sein würde, mit geschlossenen
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