Nibelungenmord
sie sich etwas ausgeruht hat. Und die Blumen können Sie der Schwester geben.« Ein gerührter Blick streifte den üppigen Rosenstrauß in Jans Händen. Was für ein liebevoller Enkelsohn, sagte dieser Blick.
»Sie sah aus wie eine Leiche«, sagte Jan.
Der Arzt seufzte. »Ihre Großmutter ist alt. Sie hat geschlafen. Ältere Menschen sehen im Schlaf nun einmal so aus. Vielleicht sollten Sie sich schon einmal an den Gedanken gewöhnen, dass sie eines nahen Tages sterben könnte. Und das sage ich Ihnen jetzt nicht als Arzt, denn medizinisch gesehen ist sie fit, auch wenn das Herz etwas schwächer geworden ist, daher auch die Beschwerden vom letzten Jahr. Sehen Sie es mal so: Die wenigsten Leute werden so alt, wie Ihre Großmutter jetzt schon ist. Suchen Sie ihr ein schönes Altersheim, damit sie gut versorgt wird. Das ist alles, was ich Ihnen raten kann.«
Jan rieb sich die Stirn, hinter der ein Gedanke aufblitzte an die Frau, die Edith mit seiner Dienstwaffe verjagt hatte. Wie stolz sie darauf gewesen war! Wie sie beide gelacht hatten! War das wirklich erst gestern gewesen? »Ich danke Ihnen.«
»Sie müssen sich bald darüber klarwerden, wie es weitergehen soll. Ich habe leider weder Frau Herzbergers Tochter Gudrun noch Henriette Herzberger erreichen können.«
»Henriette ist meine Mutter.«
»Ich weiß.« Der Arzt lächelte. »Das sagte Frau Herzberger mir.«
Wer weiß, was sie ihm noch alles erzählt hatte, dachte Jan. Ediths Angewohnheit, weitschweifige Geschichten über ihren Enkel zu verbreiten, hatte ihn schon öfter in eigenartige Situationen gebracht. Sie erzählte immer nur von ihm, nie von Clara oder ihren Töchtern.
»Meine Tante lebt in Kanada, und meine Mutter ist zurzeit in Italien und hat leider keine Anschrift hinterlassen.«
»Ich weiß«, wiederholte der Arzt.
Das dringende Bedürfnis, sich mitzuteilen, überkam Jan wie eine Welle. Henriette Herzberger hat nicht nur ihre über achtzig Jahre alte Mutter allein gelassen und noch dazu die Kopfgeldjägerin eines Altenheims auf sie gehetzt, sie hat auch die Einladung zur Hochzeit ihres eigenen Sohnes ausgeschlagen, stellen Sie sich das vor. Als wir ihr von den Vorbereitungen erzählen wollten, hat sie ihrer zukünftigen Schwiegertochter herablassende Fragen nach ihrer Garderobe gestellt. »Deine Frau ist ja wirklich anspruchsvoll, Jan«, hat sie nach einem abschätzigen Seitenblick gesagt. Dann hat sie sich wieder Nicoletta zugewandt und gesagt, sie hoffe, dass wir mit der Wohnungssuche weitergekommen seien, es sei ja offenbar sehr schwer, uns zufriedenzustellen. Ihrer Meinung nach haben Leute, die Wert auf Kleidung und Einrichtung legen, automatisch weder Hirn noch Gefühl, und mit der Hochzeit schien ihr klar, dass ich fortan auch zu dieser anderen Kaste gehöre. Dabei weiß sie noch nicht einmal, dass die Hochzeit nicht stattgefunden hat, wie kann sie das wissen, da sie mit einem Laientheater durch die Lande zieht und altgriechische Dramen an antiken Stätten aufführt.
Sie habe es ohnehin nicht mit Hochzeiten und sei mit Nicolettas Verwandtschaft nie richtig warmgeworden, hat sie gesagt, aber Jan hatte genau gespürt, dass die wortreichen Erklärungen nur ihr absolutes Desinteresse kaschierten, dass sie ehrlich entbrannt war für dieses absurde Theaterprojekt und dass die Jamben und Trochäen in ihrem Kopf ihre Füße bereits zucken ließen, während ihre Worte die Familie wie gewohnt auf Abstand hielten.
»Meine Mutter ist sehr speziell«, sagte Jan. Er sprach die Worte in den leeren Flur, denn der Arzt war bereits mit wehendem Kittel hinter einer der weißen Türen verschwunden.
Nach einem letzten Blick durch die Tür mit der Nummer 345 auf das leichenhafte Gesicht seiner Großmutter entschloss Jan sich zu gehen. Konnte es tatsächlich sein, dass Edith immer so aussah, wenn sie schlief? Er hatte sie nie schlafen sehen. Soweit er wusste, hielt sie keinen Mittagsschlaf. Das musste sie ändern. Sie musste sich schonen, mehr auf sich achten. Sich ausruhen, damit sie gesund blieb.
Er verließ das Krankenhaus, ohne eine der Schwestern zu suchen. Er schlang sich den Schal um den Hals, aber trotzdem fröstelte er, als ihn die kalte Luft traf. Es war so plötzlich Winter geworden, als habe er von der Tatortbesichtigung im Nachtigallental die Grabeskälte mitgebracht.
Vor dem Kindergarten auf der gegenüberliegenden Straßenseite standen Mütter mit Buggys, ihre warm eingepackten Kleinen an der Hand. Sie lachten und schwatzten, und Jan
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