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Nibelungenmord

Nibelungenmord

Titel: Nibelungenmord Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Judith Merchant
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nicht für lang. Der Fabrikbesitzer ging pleite, so wie viele andere, und niemand mochte sein Haus kaufen, das verkehrstechnisch so schlecht gelegen war, mitten im Wald. Was ihm wildromantisch erschienen war, fanden die wenigen Interessenten, die sich eingefunden hatten, nur düster. Dann doch lieber ein Haus am Mittelmeer, wo die Sonne schien und nicht wie hier von Chlorophyllmassen verschluckt wurde.
    Und so verfiel das stolze Haus. Sein Vanillegelb war zu einem schmutzigen Sandbraun verblichen, der Putz bröckelte und gab den Blick frei auf ein Gerippe aus mürben Ziegeln. Einige letzte Fensterscheiben starrten blind ins Leere, durch die meisten pfiff und heulte der Wind.
    Weder von der Zahnradbahn noch vom Eselspfad aus war das verfallene Gebäude zu sehen. Die frühere Zufahrtsstraße war längst zugewuchert und von Brombeerranken bewehrt, die jedem Eindringling ihre Zähne und Klauen ins Fleisch schlugen und ihn zum Rückzug zwangen. Nur ein letzter geheimer Pfad führte von einer Lichtung unweit der Eselstränke durch ein im Sommer schier undurchdringliches Dickicht aus Brombeeren und Brennnesseln bis zu der Terrasse an der Rückseite des Schlösschens.
    So hatte Sven es damals entdeckt, auf einem seiner einsamen Streifzüge. Es war sein geheimer Rückzugshort geworden. Im Laufe der Zeit hatte er Kissen und Decken herbeigeschafft, einen Campingkocher, eine Wasserpfeife, alles, was er brauchte.
    Jetzt war er froh darüber.
    »Wahnsinn«, sagte Lara. Sie hockte unter seiner grünen Wolldecke auf Kissen, die einmal die Gartenmöbel von Svens Eltern geziert hatten. Es waren offenbar echt gute Kissen gewesen, denn Cecilia war beinahe in Raserei verfallen, als sie plötzlich fehlten, und hatte laut »Diebstahl!« geschrien. »Guck doch mal, dieser Erker! Wie in einem Schloss! Ein Dornröschenschloss, so wie das überwuchert ist. Und hier die Deckengemälde! Man kann es kaum noch erkennen, aber ich glaube, das hier war ein Engel … Man sieht noch seinen Arm und …«
    »Hm«, machte Sven und legte den Kopf in den Nacken bei dem Versuch, mit den Augen ihrem herumirrenden Zeigefinger zu folgen.
    Es war komisch, diese Villa mit Laras Augen zu sehen. Für ihn hatte sie Ruhe bedeutet, nichts als Ruhe. Und Frieden vielleicht.
    Ein Ort ohne Eltern, die mit ihrem Streitgeschrei die Luft zerrissen, ohne Haushälterin, die, mit Wischmop bewaffnet, in sein Zimmer stürmte und ihn beim Kiffen oder Träumen oder Musikhören störte. Einfach nur Ruhe. Und dazu dieses Grün im Frühling, das war so geil! Man konnte sich hier echt vorstellen, dass es gar keine Menschen gab.
    Keine Menschen. Das war Svens Lieblingstraum. Nur diese Berge, die gar nicht sieben waren, und dazu die Bäume und das Licht, wenn es langsam durch die Blätter sickerte. Und die Höhlen, die Schätze beherbergten, und Drachen, die diese bewachten.
    Und Orks vielleicht. Irgendeine fiese Bedrohung, vor der er durch den Wald fliehen würde, er würde stürzen und sich wieder aufrappeln und weiterhechten, zwischen den Bäumen durch, den Atem seiner Verfolger im Nacken, Haken würde er schlagen und sich hinter mächtigen Wurzeln verbergen, bis die dummen Orks an ihm vorbeigelaufen waren, und dann wäre er in Sicherheit, hier, in seiner Festung.
    Irgendwie war es ja genau so gekommen. Na ja, fast genau so.
    Sie waren echt geflohen, als wären Orks hinter ihnen her, als Laras Vater plötzlich gekommen war. Raus aus dem Haus, quer durch die Beete, rauf auf die Räder und weg. Lara war total durch den Wind gewesen. »Ich will ihn nicht sehen«, hatte sie gemurmelt. Er hatte sie nicht gehört, so wild hatten sie beide in die Pedale getreten, aber er hatte ihre Lippen gesehen, wie sie unablässig in Bewegung waren, und er hatte gewusst, dass sie über ihren Vater sprach. Sie war völlig fertig und verwirrt gewesen, weil sie es nicht glauben konnte. Dass sie ihm nicht vertrauen konnte. Dass er Sachen tat, die der Familie schadeten.
    Er wusste genau, wie sie sich fühlte. Er hatte dasselbe durchgemacht.
    Sie hatten mit der Fähre übergesetzt, schweigend. Vielleicht, um möglichst wenig Aufmerksamkeit zu erregen, damit der Fährmann sie nicht in Erinnerung behielt. Vielleicht auch, weil sie nicht weiterwussten.
    »Was machen wir denn jetzt?«, hatte Lara gefragt. Es hatte zu regnen begonnen, und sie hatte ihn angeguckt mit diesen Wahnsinnsaugen, als wäre sie sicher, dass er Rat wusste.
    Da hatte er sich entschieden. Dass er sein Geheimnis teilen und sie mitnehmen würde

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