Niceville
Tempel gemahnende Halle leerte
sich langsam, und das golden strahlende Licht, das durch die verglaste Wand am
Wartebereich fiel, wurde nach und nach dunkler und bernsteinfarben. Schlanke
Lichtbalken leuchteten im Dunst und verliehen dem riesigen widerhallenden Raum
eine Atmosphäre, als befinde man sich unter Wasser.
»Tja, was haltet ihr davon?«, fragte Nick, lehnte sich zurück und
sah nach, ob Kate inzwischen angerufen hatte. Sie hatte nicht.
Lemon starrte auf seinen Kaffee, und Beau saß schweigend da und
dachte traurig an den Jungen dort oben, der nach seiner toten Mutter fragte.
»Ein Rufer. Dieser Merle war ein Rufer.«
»Und was ist ein Rufer?«, fragte Nick.
»Das ist so ein Aberglaube. Meine Mutter hat daran geglaubt. Es sind
Leute, die an einem Ort zwischen den Welten leben, sie sind nicht tot, aber
auch nicht richtig lebendig – sie sind irgendwie beides. Wenn einem ein Rufer
im Traum erscheint, weiß man nach dem Aufwachen, dass man was Wichtiges zu
erledigen hat.«
»Wie sah er aus?«
»Groß, so groß wie ich, mit rasiertem Schädel. Er sah aus wie ein
harter Bursche, als hätte er mal im Knast gesessen. Er hatte was von einem
Gangboss oder einem Ausbilder bei den Marines – er hat den Blick nicht
abgewendet, er hat mir die ganze Zeit direkt in die Augen gesehen.«
»Was hatte er an?«, fragte Beau und notierte in Druckbuchstaben MERLE – GEFÄNGNIS ?
»Farmarbeitersachen. Grobe Jeans, schwere Stiefel. Die sahen alt
aus, verkratzt und schmutzig, und die Hosenbeine der Jeans waren aufgekrempelt.
Der Gürtel war alt und rissig und ganz eng geschnallt – entweder hat er stark
abgenommen oder er hat sich den Gürtel von einem dickeren Mann geliehen. Er
hatte breite Schultern und einen kräftigen Hals mit einer Brandnarbe an der
Seite, er wirkte sehr stark und hatte ein altes kariertes Hemd an. Der Stoff
war ganz dünn, als wäre es zu oft gewaschen worden. Er hatte eine Art
Segeltuchtasche an einem Riemen über die Schulter gehängt. Sie sah schwer aus
und hatte an der Seite eine Aufschrift, in Schwarz und mit Schablone
geschrieben: First Infantry Division und dann die Buchstaben AEF.«
»American Expeditionary Force«, sagte Nick. »Das war im Ersten
Weltkrieg.«
»Ja, das dachte ich auch. Das Ding sah auch alt genug aus. Er hat
sich … komisch bewegt, als hätte er einen steifen Rücken. Und er roch nach
Dieselabgasen.«
Beau schrieb BUSHOF ?
»Diese Glynis? Sagt Ihnen der Name irgendwas?«
Lemon schüttelte den Kopf.
»Nein, den habe ich noch nie gehört. Aber der Tote in der Gruft hieß
doch Ruelle, oder nicht?«
»Ja. Ethan Ruelle.«
»Kennen Sie eine Glynis Ruelle, Nick?«
»Ich weiß nur, dass auf der Rückseite des Spiegels in Uncle Moochies
Schaufenster, in den Rainey gesehen hat, eine von einer Glynis R.
unterschriebene Karte ist.«
»War das nicht ein echt alter Spiegel?«
»Ja. Aus Irland, sagt Moochie. Sehr alt.«
Lemon schüttelte den Kopf.
»Ich verstehe das alles nicht.«
»Das sollen wir wohl auch nicht. Irgendjemand macht sich einen
Riesenspaß daraus, mit uns zu spielen. In diesem Teil des Staates gibt es eine
Menge Teagues«, sagte Nick mit einem Seitenblick auf Beau, der eifrig schrieb. »Wir
lassen die Namen durch den Polizeicomputer laufen – mal sehen, was
herauskommt.«
Lemon hatte eine Frage.
»Ist der Name Abel Teague mal aufgetaucht, als Sie nach Rainey
gesucht haben?«
»Nein. Aber heute Morgen haben Sie doch gesagt, dass Sylvia Teague ein
paar Tage vor ihrem Tod nach ihren Vorfahren geforscht hat. Vielleicht ist
dieser Abel Teague irgendwo in ihrem Computer.«
Nick nahm einen Schluck Kaffee und warf abermals einen Blick auf das
Display seines Handys.
Kate,
wo bist du?
Er sah wieder Lemon an.
»Was halten Sie davon?«
»Ich hab es Ihnen heute Morgen schon gesagt, Nick. Ich glaube, das
alles kommt von …«
»Draußen. Ja. Hab ich nicht vergessen.«
Lemon lehnte sich zurück, sah sie an und sagte: »Wie immer das hier
weitergeht, ich will dabei sein.«
»Das ist eine polizeiliche Ermittlung«, sagte Beau.
»Und ich bin polizeilicher Informant.«
»Für das Drogendezernat«, sagte Beau.
Nick hob die Hand.
»Ich kann Sie nicht voll in die Ermittlungen einbeziehen«, sagte er,
»aber ich glaube, Sie können uns helfen.«
»Wie?«, fragte Beau und sah ihn an.
»Können Sie mit Computern umgehen?«
»Ich war bei den Marines im Büro des Quartiermeisters und in der
Nachschubeinheit. Aber wie bekomme ich Zugang zu einem
Weitere Kostenlose Bücher