Niceville
Das
waren keine guten Neuigkeiten. Wenn die Kugel Fasern des Hemdstoffs mitgerissen
hatte – was sie normalerweise tat –, würden diese eine Entzündung verursachen.
Mit einer saugenden Wunde in der Brust, einer schmutzigen 9-mm-Kugel
irgendwo in seinem Körper und den damit verbundenen inneren Blutungen hatte
Charlie Danziger tatsächlich schlechte Karten.
Danziger nahm, was von seinem Hemd übrig war, und drückte es auf die
Wunde. Das tat sehr weh, und so begnügte er sich damit, die Umgebung der Wunde
so trocken zu reiben, dass das Klebeband darauf halten würde. Nach einigen
Versuchen gelang es ihm, die Plastikhülle an drei Seiten festzukleben. Die vierte
ließ er offen.
Sogleich schmiegte sich das Plastik an die Haut, wenn die Lunge sich
zusammenzog. Da er die vierte Seite nicht mit Klebeband befestigt hatte,
funktionierte das Ding wie ein Ventil, das sich schloss, wenn die Lunge einen
Unterdruck erzeugte und Luft ansaugte, sich aber öffnete, wenn die verbrauchte
Luft ausgestoßen wurde. Menschen ohne Lungensteckschuss nennen diesen Vorgang
atmen.
Dass er nun wieder Luft bekam, machte einiges leichter, unter
anderem, schleunigst von hier zu verschwinden. Fünf schmerzerfüllte Minuten
später lagen die Seesäcke im Kofferraum des beigefarbenen Chevy. Geld mochte
die Wurzel allen Übels sein, aber bei zwei gestohlenen Millionen in bar bestand
das Risiko in erster Linie darin, sich einen Bruch zu heben.
Er ließ den Wagen an, fuhr auf die Lichtung, stieg aus und hielt im
Wald ringsum Ausschau nach Spuren von Merle Zane. Das Licht schwand schnell.
Vielleicht war er auch dabei zu sterben.
Sagten die Jungs in den alten Filmen nicht auch immer: »Wyatt, es
wird so dunkel«, wenn sie an einer Schusswunde verreckten? Er sah auf seine
Cowboystiefel – seine besten dunkelblauen Stiefel von Lucchese – und stellte
fest, dass sie mit Blut bespritzt waren.
Er fand es tröstlich, dass er, wenn es schon sein musste, wenigstens
in den Stiefeln sterben würde, ganz in der Tradition der großen Revolverhelden.
Aber da er schließlich noch nicht ganz tot war, blieb ihm nichts
mehr zu tun als eine Signalfackel anzuzünden und in die Scheune zu werfen. Er
war zweihundert Meter gefahren, als das abendliche Dämmerlicht hinter ihm einen
roten Schimmer bekam.
Tony Bock hat eine Offenbarung
Lanai Lane war eine Allee in einem langen Fächer aus
miteinander verbundenen Straßen, an denen identische kleine Art-déco-Bungalows
aus gelben Ziegeln sich mit identischen Ranchhäusern abwechselten. Sie waren
allesamt in den frühen fünfziger Jahren als Teil einer Neubausiedlung namens
The Glades gebaut worden.
The Glades hatte einst außerhalb von Niceville gelegen und sich
einer Atmosphäre vorstädtischer Exklusivität erfreut, doch im Lauf der Jahre
war Niceville gewachsen und hatte es sich einverleibt. Sogar an den Namen
erinnerten sich inzwischen nur noch diejenigen, die von diesen hoffnungsvollen
jungen Familien, die gerade den Zweiten Weltkrieg hinter sich gebracht hatten
und hierhergezogen waren, um ihren Beitrag zur Verwirklichung des Großen
Amerikanischen Traums zu leisten, noch übrig waren.
Den meisten dieser Nachkriegsfamilien war es ebenso gut gegangen wie
ihrer zuversichtlichen Nation. Sie hatten Bäume gepflanzt und Gärten angelegt,
hatten Zäune gebaut und Rasen gesprengt, sie waren an lauen Sommerabenden über
diese grünen Rasen spaziert und hatten sich mit Nachbarn getroffen, eisgekühlte
Drinks getrunken und ihre Kinder aufwachsen sehen – Eisenhower-Jahre,
Nixon-Jahre, Vietnamkrieg, Gegenkultur, Reagan, Clinton, der 11. September und
die Kriege, die danach kamen.
Im Lauf der Zeit waren die ursprünglichen Glades-Familien alt
geworden. Ehepartner waren verstorben, die Kinder kamen immer seltener zu
Besuch, alte Freunde und Nachbarn gingen dahin – Namen, die auf einer Liste
abgehakt wurden.
Jetzt, in einem nagelneuen Jahrhundert, waren die Eichen, die vor
dem Bürgerkrieg dürre Schösslinge gewesen waren, so groß, dass ihre Zweige sich
über den schmalen Straßen miteinander verflochten: Das Laubdach war wie ein
breiter, mit Spanischem Moos behängter Baldachin und wölbte sich über alten
Häusern, auf denen Sonnenflecken spielten und in denen alleinstehende
Rentnerinnen wohnten, der eine oder andere Mieter, der Tin Town hinter sich
gelassen hatte, und ein paar schwarze, hispanische oder muslimische Familien,
für die The Glades bloß eine Zwischenstation beim nicht gerade
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