Niceville
Crowder nicht ein bisschen in die Zange nehmen willst,
nur um zu sehen, was dabei rauskommt?«
»Du bist nicht der Einzige, der findet, dass wir uns Crowder genauer
ansehen sollten. Ich hab einen Anruf von Tig Sutter gekriegt –«
»Das alte Warzenschwein. Wie geht’s ihm?«
»Er klang ziemlich beschäftigt. In Niceville passiert anscheinend
gerade eine Menge Scheiße. Irgendeine reiche alte Dame ist verschwunden, und
sie haben den Kerl geschnappt, der die beiden Mädchen am Patton’s Hard
vergewaltigt hat, und Nick Kavanaugh glaubt, dass er in der Teague-Sache auf
eine Spur gestoßen ist.«
»Gut für ihn. Überrascht mich nicht. Du hast damals doch auch an
diesem Fall gearbeitet, oder nicht?«
Boonies Gesicht verdüsterte sich.
»Ja.«
»Hast du dir je einen Reim darauf machen können?«
»Frag mich lieber nicht, was ich über diesen Fall denke, Charlie.«
»Tu ich aber.«
Boonie sah auf zum Bild des Präsidenten, als könnte er dort die
Antwort lesen.
»Es ist kompliziert. Willst du’s wirklich wissen?«
»Ich habe nichts Besseres zu tun. Kann ich noch einen Schluck
Bourbon haben?«
Boonie schenkte ihnen ein gutes Quantum nach und lehnte sich zurück.
»Okay. Ich hab ein paar Statistiken zusammengestellt, und –«
» Du hast Statistiken zusammengestellt?«
»Ich bin nicht so blöd, wie ich aussehe, Charlie.«
»Das hab ich auch nie angenommen, Boonie.«
Boonie ignorierte das.
Als er fortfuhr, war seine Stimme vollkommen verändert. Mit einem
Mal war er der, der er unter der Fassade des guten Kumpels war: Boonie
Hackendorff, der gewissenhafte FBI -Ermittler.
»Okay, das nur als Hintergrund: In einer Stadt wie Niceville, mit
einer Einwohnerzahl von zwanzig- bis dreißigtausend, gibt es, wenn man die
Kindesentführungen im Zuge von Sorgerechtsstreitigkeiten und die Fälle abzieht,
wo ein pubertierendes Mädchen sich mit dem Vater in die Haare kriegt, weil er
will, dass seine Tochter um zehn zu Hause ist, und dann setzt sie sich in den
Greyhound und wird sechs Wochen später im Haus ihres Exfreunds in Duluth
aufgegriffen –«
»Lyla Boone.«
»Genau, Lyla Boone.
Jedenfalls gibt es in solchen Städten alle fünf Jahre mal einen oder
zwei Fälle von Entführung, und wenn man ein bisschen gräbt, findet man fast
immer eine Verbindung zwischen Täter und Opfer. Wenn also, sagen wir, ein
Gangmitglied vom Mitglied einer rivalisierenden Gang entführt und umgebracht
wird, von einem Typen, den er nicht kennt, dann wird das bei uns zunächst unter
›Entführung durch eine fremde Person‹ abgelegt. Später, wenn die Fakten
ermittelt sind, müsste das dann umdeklariert werden –«
»Aber es wird nie umdeklariert, oder?«
»Nein. Meistens nicht. Menschliches Fehlverhalten. Nicht genug
Leute. Und so landet der Fall in der Statistik für ›Entführung durch eine
fremde Person‹. Zusammen mit tausenden anderen aus dem ganzen Land. Darum
denken all die Bürger und die Medienheinis: Verdammt, unsere Kinder sind nicht
sicher, die Straßen sind voller sabbernder Perverser, die unseren süßen Binkies
und Boopsies nachsteigen. Aber Tatsache ist, Charlie: Echte Entführungen durch
fremde Personen sind extrem selten. Eins zu eine Million. Was meinst du, wie
viele Entführungen durch fremde Personen es in Niceville gegeben hat?«
»Ich weiß nicht. Das hab ich mich auch immer gefragt. Als ich noch
im Dienst war, kam es mir so vor, als hätten wir viel mehr solcher Fälle, als
man hätte meinen sollen.«
»Da hast du verdammt recht. Seit 1928, als man anfing, eine
Kriminalstatistik zu führen, hat es in Niceville hundertneunundsiebzig bestätigte
und vollkommen willkürliche Entführungen durch fremde Personen gegeben. Das
sind etwas mehr als zwei pro Jahr, Charlie, und das ist total verrückt. Das
liegt so weit über dem Landesdurchschnitt, dass Niceville bei der FBI -Ausbildung
in Quantico jedes Jahr erwähnt wird.«
»Offenbar nicht oft genug. Jedenfalls scheint ihr ja nicht gerade
viel dagegen zu unternehmen.«
Der Vorwurf schien Boonie zu verletzen.
»Das stimmt nicht. Wir unternehmen etwas. Im Augenblick sind wir
dabei –«
»Hat sich mal irgendwer wissenschaftlich damit befasst – ein
Kriminologe oder so?«
»Ja. Der Vater von Nicks Frau Kate – und übrigens auch der Vater von
Reed Walker – ist Dillon Walker, ein Professor für Militärgeschichte am VMI .
Er hat sich vor ein paar Jahren damit beschäftigt, aber als seine Frau ums
Leben kam, hat er damit aufgehört.«
»Ich kann
Weitere Kostenlose Bücher