Nicholas Dane (German Edition)
Muttermilch, und Mr Creal musste im Laufe des Abends ein zweites Päckchen aufmachen. Dann bekamen sie Bier. Flynn konnte sich gar nicht einkriegen und kippte es gleich runter, so dass für ihn von da an das Bier rationiert wurde, aber alles in allem ging es friedlich zu. Bald waren sie ein bisschen beschwipst, erzählten sich blöde Witze und brüllten vor Lachen.
Das einzige Haar in der Suppe war, dass Oliver nicht so fröhlich war wie sonst, sondern düster und nervös wirkte. Mr Creal tat sein Bestes, ihn aufzuheitern, aber Oliver machte den ganzen Abend lang ein mürrisches Gesicht, so dass Nick irgendwann sauer wurde. Es war das erste Mal seit Wochen, dass er ein bisschen abhängen und ganz normale Sachen machen konnte – warum musste ihm Oliver das mit seiner miesen Laune verderben?
»Lass ihn«, sagt Mr Creal. »Das passiert hier allen mal, dass sie trübsinnig werden. Sogar mir«, fügte er ein wenig versonnen hinzu.
»Klar, aber heute nicht«, sagte Nick.
Mr Creal verzog das Gesicht. »Man kann nie wissen, wann einen die Traurigkeit überfällt.«
Für einen lockeren Abend klang das zu düster. Nick fand, es gab wahrlich genügend andere Gelegenheiten, um Trübsal zu blasen. Aber es dauerte nicht lange, da erfuhr er, wie Recht Mr Creal hatte. Es geschah gegen Ende des Abends, als sie Musik hörten. Nick hatte einige seiner Kassetten eingelegt, aber es erwischte ihn nicht bei seiner Musik, sondern bei »Dancing Queen« von ABBA. Bescheuertes Lied.
Weihnachten zu Hause. Sie hatten die Geschenke unter dem Weihnachtsbaum ausgepackt. Nick hatte seiner Mutter ein ABBA-Album geschenkt, und darauf war dieses Lied gewesen. Seine Mutter hatte schon leicht einen sitzen. Sie tanzte mit einem Riesenglas Wodka-Orange in der Hand albern herum und trällerte dazu: »Dancing queen … only seventeen …« Und Nick brüllte, sie solle aufhören mit dem grässlichen Gegröle.
Er hatte von ihr einen Walkman bekommen. Er erinnerte sich, wie er vor dem Baum hockte und das Päckchen aufmachte und seine Mutter sich zu ihm hinunterbückte und ihm einen Kuss gab …
Das Bild stürzte völlig unvermittelt auf ihn ein, schnitt wie eine Glasscherbe durch ihn hindurch. Der Schreck und die Trauer packten ihn so heftig, dass er in Panik geriet. Die Musik dröhnte, er stand mitten im Raum, gefangen zwischen Vergangenheit und Gegenwart … Er spürte, wie ihm die Tränen kamen, und wusste, er würde gleich losheulen.
»Nick, wir brauchen noch Cola.« Mr Creal fasste ihn an der Schulter. »Oliver, das ist zu laut, mach ein bisschen leiser, bitte. Nick, du kommst mit mir …«
Er führte Nick den Flur entlang zum Bad. »Ich weiß, wie das ist«, sagte er. Er klopfte Nick auf die Schulter, und plötzlich, in einem Anflug von Mitgefühl, zog er ihn eng an seine Brust. So hielt er ihn einen Moment, während Nick mit den Tränen kämpfte, dann verließ Mr Creal das Bad und überließ Nick seiner Trauer.
Zehn Minuten später, als Nick mit frisch gewaschenem Gesicht und einer Viererpackung Cola zurückkam, schien niemandem aufgefallen zu sein, dass er weg gewesen war. Er nickte Mr Creal dankbar zu, setzte sich wieder und grinste kurz zu Oliver rüber. Es stimmte. Die Traurigkeit konnte einen erwischen, wenn man es überhaupt nicht erwartete – sogar dann, wenn es einem richtig gut ging. Vielleicht manchmal sogar gerade dann, wenn es einem richtig gut ging.
Gegen halb elf wurde Mr Creal unruhig.
»Mr Toms«, sagte er und verzog das Gesicht. »Ich sage ihm zwar immer, ich sorge schon dafür, dass ihr Jungs sicher in eure Betten kommt und dass er sich keine Sorgen zu machen braucht. Aber er besteht trotzdem darauf, dass ich euch gegen halb elf zurückschicke – und jetzt ist schon halb elf durch. Tut mir leid, Nick, aber du musst jetzt gehen. Oliver, dein Mr Albans nimmt das nicht so genau, du kannst noch ein bisschen bleiben, wenn du magst. Du auch, Flynn. Nick, kann ich mich drauf verlassen, dass du allein zurückfindest?«
Nick zog ein Gesicht. Niemand wollte als Erster ins Bett. Nur, weil er Toms hatte! Trotzdem protestierte er nicht. Schon beim Gedanken an sein Bett musste er gähnen. Er war nicht mehr daran gewöhnt, so lange aufzubleiben. Mr Creal begleitete ihn zur Tür.
»Ich kann mich doch auf dich verlassen? Natürlich kann ich das!«, lächelte er. Dann schob er Nick eine Papiertüte in die Hand.
»Komm gut heim«, sagte er. Er blieb vor der Tür stehen, als Nick den Korridor hinunterging, und winkte noch, bis
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