Nicholas Flame Bd. 1 Der Unsterbliche Alchemyst
die Ratten auf die offene Tür am Ende des Korridors zu. Die meisten überlebten die scharfen Klingen …
Während die Limousine dahinbrauste, hob Dr. John Dee den Spähzauber auf, mit dem er die Ratten belegt hatte, und konzentrierte sich stattdessen auf den überlebenden Golem. Dieses künstlich erschaffene Wesen zu kontrollieren, war sehr viel einfacher. Golems waren hirnlose Gesellen, geformt aus Erde, die mit Kies oder Schotter vermischt wurde, damit sie stabil waren, und zum Leben erweckt mit einem simplen Zauberspruch, der auf ein Stück Pergament geschrieben und ihnen in den Mund gedrückt wurde. Schon seit Tausenden von Jahren erschufen Zauberer Golems in allen Formen und Größen und so mancher berühmte Gruselroman beruhte auf ihrem Vorbild. Dee selbst hatte Mary Shelley an einem kalten Winterabend die Geschichte des berühmtesten aller Golems, des Roten Golems von Prag, erzählt, als sie, Lord Byron, der Dichter Percy Bysshe Shelley und der geheimnisvolle Dr. Polidori ihn 1816 in seinem Schloss in der Schweiz besucht hatten. Keine sechs Monate später schrieb Mary die Geschichte des Modernen Prometheus , jenes Buch, das unter dem Titel »Frankenstein« allgemein bekannt wurde. Das Monster in dem Buch glich in allem einem Golem und wurde wie er durch Magie zum Leben erweckt.
Golems waren immun gegenüber den meisten Waffen. Allerdings konnte ein Sturz oder Schlag ihre Schlammhaut zum Platzen bringen, vor allem dann, wenn sie trocken und hart war. Im feuchten Klima trocknete ihre Haut kaum jemals aus und konnte unwahrscheinlich viel aushalten, doch bei diesem warmen Wetter wurden sie spröde. Das war auch der Grund, weshalb sie den versteckten Klingen so schnell zum Opfer gefallen waren. Einige Zauberer benutzten Glas oder Spiegel für die Augen, doch Dee bevorzugte blank polierte schwarze Steine. Sie ermöglichten es ihm, fast rasiermesserscharfe Bilder zu sehen, wenn auch in Schwarz-Weiß.
Dee ließ den Golem den Kopf nach oben drehen. Direkt über ihm waren auf einem schmalen Innenbalkon, der in das Dojo ragte, die blassen, erschrockenen Gesichter der Jugendlichen zu sehen. Dee lächelte und die Lippen des Golems ahmten die Bewegung nach. Zuerst wollte er sich Flamel vornehmen, dann die Zeugen.
Plötzlich tauchte Nicholas Flamels Kopf auf und einen Augenblick später auch das unverwechselbare Stachelhaar der Kriegerin Scathach.
Das Lächeln verschwand aus Dees Gesicht, und er konnte es nicht verhindern, dass sein Herz unruhig zu klopfen begann. Warum ausgerechnet Scathach? Er hatte nicht gewusst, dass die rothaarige Kriegerin in der Stadt war – oder überhaupt auf diesem Kontinent. Das Letzte, was er von ihr gehört hatte, war, dass sie in einer Mädchenband in Berlin gesungen hatte.
Durch die Augen des Golems sah Dee, wie Flamel und Scathach sich über das Balkongeländer schwangen und nun direkt vor dem Lehmwesen standen. Scathach sagte etwas zu Flamel – da dieser Golem aber keine Ohren hatte, verstand Dee nicht, was sie sagte. Wahrscheinlich hatte sie eine Drohung geäußert und sicher auch ein Versprechen.
Flamel schob sich Richtung Tür, die jetzt dunkel war und von Ratten nur so wimmelte, und überließ es Scatty, sich mit dem Golem zu befassen.
Vielleicht ist sie nicht mehr so gut wie früher, sagte sich Dee nervös. Vielleicht haben ihre Kräfte mit der Zeit etwas nachgelassen.
»Wir sollten ihnen helfen«, sagte Josh.
»Und wie bitte?«, fragte Sophie ohne jede Spur von Sarkasmus. Sie standen beide auf der Galerie und schauten auf das Dojo hinunter. Mit offenem Mund hatten sie beobachtet, wie Flamel und Scatty über das Geländer gesprungen und unnatürlich langsam auf den Boden geschwebt waren. Das rothaarige Mädchen stand dem Golem gegenüber, während Flamel zur Tür ging, wo sich die Ratten sammelten. In den Tieren schien sich etwas dagegen zu sträuben, den Raum zu betreten.
Ohne Vorwarnung holte der Golem mit seiner gewaltigen Faust aus und setzte gleich noch einen kräftigen Tritt hinterher.
Josh öffnete den Mund, um Scatty zu warnen, doch bevor er einen Ton herausbrachte, hatte sie sich schon in Bewegung gesetzt. Gerade hatte sie noch vor dem Lehmwesen gestanden; jetzt warf sie sich nach vorn, duckte sich unter den Schlägen und Tritten hinweg und versetzte dem Golem so schnell, dass man fast nicht folgen konnte, mit der flachen Hand einen Schlag gegen das Kinn. Es war nur ein leises Klatschen zu hören, dann hängte sich der Unterkiefer aus und klappte
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