Nicholas Flamel Bd. 2 Der dunkle Magier
–, aber er wusste, dass es nicht mit rechten Dingen zugegangen sein konnte. Er war die letzte Straße – wenn er sich richtig erinnerte, hatte »Rue de Marignan« auf dem Schild gestanden – ohne jede Anstrengung vom einen bis zum anderen Ende durchgesprintet, und als er jetzt nach links in die Avenue Montaigne einbog, war er nicht einmal außer Atem.
Es lag an dem Schwert.
Er hatte gespürt, wie es beim Laufen in seiner Hand vibriert und gesirrt hatte, als sei es lebendig, wie es beinahe so etwas wie vage Versprechungen gewispert hatte. Als er es direkt vor sich gehalten hatte, so, dass die Spitze auf Nidhogg zeigte, war das Wispern lauter geworden, und die Klinge hatte sichtlich gebebt. Kaum hatte er das Schwert gesenkt, hatte das Beben nachgelassen.
Das Schwert zog ihn zu dem Ungeheuer.
Während er Nidhoggs Spur der Verwüstung durch die schmale Straße gefolgt war, vorbei an verwirrten, erschrockenen, entsetzten Bewohnern der Stadt, waren ganz am Rande seines Bewusstseins verstörende Bilder aufgeblitzt:
… Er befand sich in einer Welt ohne festes Land, schwamm in einem Ozean, groß genug, um die ganze Welt zu schlucken, und voller Kreaturen, die das Monster, hinter dem er herjagte, winzig erscheinen ließen …
… Er baumelte hoch in der Luft, eingewickelt in dicke Wurzeln, die in sein Fleisch schnitten, und schaute hinunter auf eine öde, verwüstete Landschaft in Flammen …
… Er war völlig verwirrt und irrte durch einen Ort mit kleinen Gebäuden und noch kleineren Lebewesen und er hatte Schmerzen, ein entsetzliches Ziehen am Ende seines Rückgrats …
… Er war …
Nidhogg .
Der Name war plötzlich in seinem Bewusstsein, und der Schock darüber, dass er auf unerklärliche Art und Weise in die Gedanken des Monsters eintauchen konnte, brachte ihn fast zum Stolpern. Er wusste, dass das Phänomen irgendwie in Zusammenhang mit dem Schwert stand. Als Nidhoggs Zunge in Saint-Germains Küche die Klinge berührt hatte, hatte er einen kurzen Einblick in eine fremde Welt erhalten, hatte eine schockierende Reihe von Bildern einer bizarren Landschaft gesehen. Und jetzt, nachdem er erneut auf die Kreatur eingestochen hatte, sah er kurze Ausschnitte eines Lebens, das vollkommen außerhalb seines Erfahrungsspektrums lag.
Ihm dämmerte, dass er sah, was das Ungeheuer – Nidhogg – irgendwann in der Vergangenheit gesehen hatte. Und er spürte, was es jetzt im Augenblick spürte.
Es musste etwas mit dem Schwert zu tun haben.
Plötzlich kam ihm ein Gedanke: Wenn das Excaliburs Gegenstück war, konnte diese andere Waffe dann auch Gefühle, Emotionen und Eindrücke weitergeben, wenn sie benutzt wurde?
Was hatte Dee empfunden, als er Excalibur in den uralten Weltenbaum gestochen hatte? Welche Bilder hatte er gesehen, welche Erfahrungen gemacht und was hatte er gelernt? Josh fragte sich, ob das der wahre Grund war, weshalb Dee den Weltenbaum zerstört hatte: Hatte er ihn vernichtet, um das unermessliche Wissen, das in ihm steckte, in sich aufzunehmen?
Josh warf einen raschen Blick auf das Schwert mit der Steinklinge in seiner Hand und ein Schauer überlief ihn. Eine solche Waffe verlieh demjenigen, der sie schwang, unvorstellbare Kräfte – und sie stellte eine entsetzliche Versuchung dar. Sicher drängte es einen wieder und wieder, sie zu benutzen, um mehr und immer mehr Wissen zu gewinnen. Und irgendwann war dieses Drängen dann nicht mehr zu kontrollieren. Ein entsetzlicher Gedanke.
Aber warum hatte Flamel sie ihm gegeben?
Die Antwort kam ihm sofort: Weil Flamel das alles nicht wusste! Das Schwert war ein toter Stein, bevor es in etwas Lebendiges eindrang. Erst dann erwachte es zum Leben. Josh nickte. Jetzt wusste er, warum Saint-Germain, Johanna und Scatty die Waffe nicht anrühren wollten.
Während er zum Fluss hinunterrannte, fragte er sich, was passieren würde, falls es ihm gelang, Nidhogg mit Clarent zu töten. Was würde er empfinden? Welche Erfahrungen machen?
Was würde er danach wissen?
Nidhogg brach durch ein paar Bäume, galoppierte über die Straße und lief hinunter zur Port des Champs-Élysées. Auf dem Parkplatz blieb er fast direkt vor Dee und Machiavelli stehen und ließ sich auf drei Beine herabfallen. Der gewaltige Kopf rollte von einer Seite zur anderen und die Zunge hing ihm aus dem Maul. Er stand so dicht vor ihnen, dass sie Scattys kraftlosen Körper in seiner vierten Klaue sehen konnten und die Disir, die rittlings auf seinem Hals saß. Nidhoggs Schwanz schlug aus, fegte
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